Geschichte des Netzwerks | Teil 1

Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Leserinnen und Leser,

die Geschichte der Linken im Allgemeinen und der revolutionären Linken im Speziellen ist mitunter durch eine Kernfrage gekennzeichnet: Die Frage der Organisation. Die verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen führten zu unterschiedlichen Herangehensweisen, wenn es um die Frage ging wie sich Kämpfende oder Aktivisten organisieren, wenn es um die Frage ging wie „die Massen organisiert“ werden, wenn es darum ging, neue Menschen für die eigene politische Struktur zu gewinnen und zu organisieren. Zu verschieden waren und sind die Konsequenzen, um Einzelne genauer vorzustellen. Das ist nicht die Intention dieses Textes. Die aufmerksamen Genossinnen und Genossen und auch Leserinnen und Leser, dürften im letzten Jahr einige Veränderungen festgestellt haben in unserer Struktur, dem Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen. Nach nun mehr als zehn-jährigem Bestehen ist es für uns an der Zeit, die eigene Geschichte für ein Zwischenfazit zu reflektieren und für uns die Frage der Organisation, besser gesagt der Organisierung der verschiedenen politischen Strukturen, neu zu beantworten. Wir möchten jedoch bereits eines vorweg nehmen, ihr werdet keinen Abgesang erleben, sondern eine Weiterentwicklung in der Frage der Organisation unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen.

Zurück zum Anfang…

Die Geschichte des Netzwerkes ist gekennzeichnet durch ein starkes Ausmaß internationaler Solidarität und reicht bis zum damaligen Todesfastenwiderstand der revolutionären türkischen Gefangenen zurück. Wir halten es an dieser Stelle für wichtig einige Ausführungen vorzunehmen, da uns diese Kämpfe bis heute begleiten.
Als im Jahr 2000 die sogenannten F-Typ-Gefängnisse in der Türkei eingeführt werden sollten, entfachten die politischen Gefangenen in der Türkei den längsten und opferreichsten Kampf gegen die Einführung der Isolationshaft. Diese Isolationshaft, sprich eine Haft nach „demokratischen und rechtsstaatlichen“ Verfahrensgrundsätzen, die bis heute als weiße Folter bezeichnet wird „weil sie keine äußerlichen Spuren“ hinterlässt, findet seine erste Anwendung in der BRD gegen die Gefangenen des revolutionären Widerstandes, wie die RAF,  Anfang der 1970er unter anderem in der JVA Köln-Ossendorf und im Stuttgarter Knast Stammheim. Das Konzept der Isolationshaft entwickelte sich schnell zum westdeutschen Exportschlager. Bereits Ulrike Meinhof beschrieb ihre Haftsituation  zwischen dem 16. Juni 1972 und dem 9. Februar 1973 unter den isolierten Bedingungen folgendermaßen:
„Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf … Das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepresst, das Gefühl, das Gehirn schrumpelt einem allmählich zusammen, wie Backobst z.B., das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man würde ferngesteuert – das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt – das Gefühl, die Zelle fährt. …. Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt. Das ist das Schlimmste. Klares Bewusstsein, dass man keine Überlebenschance hat; völliges Scheitern, das zu vermitteln; … Das Gefühl, es sei einem die Haut abgezogen worden.“ (aus einem Brief von Ulrike Meinhof aus dem Toten Trakt, Die Zelle fährt)
Es war nicht nur Deutschland und später die Türkei, die ihre Isolationshaft ausbauten. Auch lateinamerikanische und europäische Staaten wie Spanien folgten dem Vorbild a lá Stammheim, begleitet von heftigem Widerstand der Gefangenen und den Bewegungen draußen.
Am 26. Oktober 2000 begannen die Gefangenen in der Türkei nach dem Todesfastenwiderstand von 1996 erneut in zahlreichen Gefängnissen einen Hungerstreik, um gegen die geplante Verlegung in die F-Typ Gefängnisse Widerstand zu leisten. Knapp zwei Monate später, am 19. Dezember 2000, stürmten türkische Sicherheitskräfte mit der „Operation Rückkehr ins Leben“ rund 20 Gefängnisse – mindestens 30 Gefangene starben und mehrere Menschen wurden bei lebendigem Leibe verbrannt. Die Häftlinge wurden unmittelbar nach dem Sturm der Gefängnisse in die Zellen der F-Typ-Gefängnisse verlegt. Doch der Widerstand hielt an. Laut dem türkischen Justizministerium befanden sich Anfang des Jahres 2001 1118 Gefangene im Hungerstreik und 395 führten das Todesfasten fort. Acht Organisationen beendeten Ende Mai 2002 ihre Aktionen und 36 Gefangene der DHKP-C setzten ihr Todesfastenwiderstand fort. Der Widerstand hielt nicht nur in den Knästen an, sondern wurde auch in Stadtteile getragen, in denen linke Organisationen eine starke Basis hatten. Dort wurden Widerstandshäuser errichtet, in denen das Todesfasten öffentlich auch außerhalb der Mauern durchgeführt wurde. 130 Gefangene sind gestorben, viele leiden noch heute an den Folgen des Hunger- und Todesfastenwiderstands, als Ende 2006 nach knapp 7 Jahren der Widerstand beendet wurde. Dieser längste Gefangenenwiderstand der Geschichte endete 2007 mit einem großen moralischen Sieg der politischen Gefangenen. Eine Totalisolation konnte verhindert und der Erlass 45/1 durchgesetzt werden. Dieser beinhaltet unter anderem Gefangenengruppen zwischen 10 und 20 Personen, sowie 10- 20 Stunden Umschluß bzw. Zusammenschluss die Woche.
In diesem Zusammenhang wurde um 2002 die Antiimperialistische Türkeisolidarität (kurz ATS) u.a. von Hamburger und Berliner Gruppen ins Leben gerufen, um die internationale Solidarität mit den Kämpfenden in der Türkei zu stärken. Bereits im Mai 2002 formulierte die ATS in einer Stellungnahme: „Wir bringen es folgendermaßen auf den Punkt: Die Linke hat mehrheitlich ein Problem mit dem Todesfasten der türkischen Gefangenen.“ Daraus erklären sich auch die elementaren Ziele der ATS, nämlich der Frage nachzugehen, ob die organisierte internationalistische Solidarität ausreicht um die Freiheit der politischen Gefangenen zu erkämpfen. Natürlich lag der Schwerpunkt auf dem Todesfastenwiderstand der türkischen Gefangenen. Das aber aus einer revolutionären Perspektive heraus, denn „der Kampf um die Freilassung muss mit einer revolutionären Initiative verbunden werden. … Wenn wir aber die Freiheit der politischen Gefangenen durchsetzen wollen, müssen wir gucken, was an Druck und an Initiativen fehlt. Was verbindet uns mit den politischen Gefangenen? Was sind unsere Fragen und was ist unsere Kritik an Ihnen? Was sind unsere Ziele? Wollen wir selbst das kapitalistische System abschaffen? Wir müssen selber schauen, wie weit wir von Entfremdung, Ausbeutung, Resignation etc. betroffen sind. Nicht mit den Fingern auf andere zeigen – den Spießer, den Gegner, sondern anerkennen, dass wir viele Strukturen und Verhaltensweisen, wenn auch subtiler als bei dem Großteil der Bevölkerung, verinnerlicht haben.
Die Aufgabe bestand also darin zum einen die Kämpfe der Gefangenen in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen und zum anderen der Resignation des Großteils der Linken entgegenzuwirken. Ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, Kämpfe zu verbinden. Denn wie schon damals richtig formuliert wurde: „Kämpfe verbinden braucht nicht viele Worte, weil Kämpfe selbst Worte sind!“ (ATS, Perspektiven der Solidaritätsarbeit, 2002)
Von Beginn an beteiligten sich einige AktivistInnen an der ATS aus verschiedenen Soligruppen, wie zum Beispiel Soligruppen zu baskischen Gefangenen, zu Gefangenen der Action Directe oder Soligruppen zu kolumbianischen Gefangenen. Darüber hinaus gab es eine Unterstützung und Zusammenarbeit mit türkischen Exilstrukturen, die ihren Ausdruck beispielsweise auf jährlichen Symposien fanden. Die ATS entfaltete viele verschiedene Aktivitäten und belebte auch Tage wie den 18.3. und den 19.6. mit einer neuen, revolutionären, kämpferischen Dynamik.

Die Entstehung des Netzwerkes

2005 hatte sich aus den ehemaligen ATS-Strukturen das „Netzwerk Freiheit für alle politische Gefangenen“ gegründet. Die politische Praxis sollte nicht mehr nur auf ein Land beschränkt werden, sondern zielte auf die Solidarität mit weiteren politischen Gefangenen und die von Repression betroffenen revolutionären Strukturen weltweit ab.
Das Netzwerk wurde hauptsächlich von Genossinnen und Genossen aus drei Städten ins Leben gerufen, darunter beteiligten sich Menschen aus Berlin, Hamburg und Magdeburg, deren damalige Soligruppe Magdeburg/Quedlinburg ebenfalls an der ATS beteiligt war.
Die Soligruppe Magdeburg/ Quedlinburg entstand Ende 2002 und unterstützte die Gefangenen und Angeklagten des ersten 129a- Prozesses in Magdeburg (2002- 2006). Diese wurden wiederum auch vom ATS unterstützt, was zu einer intensiven Zusammenarbeit und zur Mitgründung des Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen führte.
Zu den eigenen Ansprüchen formulierten wir 2006: „Die Initiative ´Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen´ besteht aus Gruppen und Einzelpersonen, welche aufgrund der bestehenden Verhältnisse die Notwendigkeit sehen, die Solidarität mit den politischen Gefangenen zu stärken, die Solidarität mit den politischen Gefangenen zu vernetzen und für die Freiheit der politischen Gefangenen zu kämpfen. (…) Dabei unterstützt das Netzwerk die politischen Gefangenen auf politischer, juristischer und menschlicher Ebene und steht hinter ihnen in ihrem Widerstand für ihre Freiheit, gegen inhumane Haftbedingungen und für die Anerkennung ihres Status als politische Gefangene.
Da die politische Gefangenschaft aus den existierenden Verhältnissen hervorgeht, d.h. die Gefängnisse die Reaktion des kapitalistischen Systems gegen den Widerstand für Gerechtigkeit sind, vertritt das Netzwerk die Auffassung, dass die Solidarität mit den politischen Gefangenen integraler Bestandteil aller politischen und sozialen Kämpfe sein muss. Und da uns heute Ausbeutung und Repression in weltweit verschärfter Form entgegen tritt, sieht das Netzwerk die Notwendigkeit, diese Solidarität über die Grenzen hinweg zu stärken und die internationale Solidarität als unsere Antwort auf ihre Repression einzusetzen.“
Die konkrete Praxis äußerte sich in Öffentlichkeitsarbeit, Kundgebungen, Demonstrationen, Gefangenenbesuche, das Initiieren verschiedener Kampagne, Delegationsreisen, Prozessbegleitungen, Veranstaltungen und vieles mehr.
Die Repression gegen angebliche Mitglieder der DHKP-C hielt auch in Deutschland weiter an und so kam es im März 2008 zum §129b Verfahren gegen Mustafa Atalay, Ahmet Düzgün Yüksel, Ilhan Demirtas, Devrim Güler und Hasan Subasi. Zur Unterstützung der Gefangenen und zum Kampf „gegen die deutschen Anti-Terrorgesetze – §§129a, bzw. b – hat sich nun das Komitee gegen §§129 formiert.“ (aus der Gründungserklärung des Komitees gegen §§129)
Das Komitee gegen §§129 setzte sich aus Einzelpersonen, aus migrantischen und nicht-migrantischen Strukturen zusammen. Zeitweise arbeiteten in dem Komitee unterschiedliche Organisationen aus der Türkei zusammen. Mit dem Beginn des Prozesses organisierte das Komitee verschiedene Demonstrationen, Prozessbesuche und eine bundesweite Veranstaltungstour zu dem Prozess mit dem Ziel den §129b-Prozess politisch zu unterstützen und die Solidarität mit den Gefangenen zu organisieren. Das Komitee begleitete den §129b Prozess in Stuttgart bis zu seinem Ende.
Durch die gemeinsame Arbeit zum §129b Prozess entstand ein näherer Kontakt zum „Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen“ und 2010 gründete sich auch in Stuttgart eine Sektion des Netzwerks, da künftig nicht „nur“ zum §129b, sondern auch zu anderen Themen gearbeitet werden sollte.
Fortan wurden Aktivitäten zu verschiedenen Repressionsfällen und zu internationalen Kämpfen entfaltet, wie z.B. zum Großprozess gegen kurdische Jugendliche in Stuttgart oder zu Langzeitgefangenen wie Mumia Abu-Jamal, Marco Camenisch oder Georges Ibrahim Abdallah. Darüber hinaus wurden diverse Veranstaltungen und Aktivitäten unter dem Motto „Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen!“ durchgeführt. Bald fand das „Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen“ in Stuttgart Anschluss an die teilbereichsübergreifende Organisation „Zusammen Kämpfen“.
Dieser Ansatz, sprich dass das Netzwerk ein integraler Bestandteil von Zusammen Kämpfen ist, wurde ebenfalls in Magdeburg und Berlin umgesetzt. Ausgehend von der Tatsache, dass jede revolutionäre Organisation, sofern ihr elementares Ziel darin besteht, den Kapitalismus zu überwinden, früher oder später mit staatlicher Repression konfrontiert wird, ist es eine Notwendigkeit die Antirepressionsarbeit von Beginn an in den eigenen Strukturen und Klassenkämpfen zu etablieren – unabhängig wie die konkrete Basisbewegung auch heißen mag.

Fortsetzung folgt …