Auszüge aus einem Interview mit Maurizio Ferrari

Massenbewegungen in Italien 1968/1970
Massenbewegungen in Italien 1968/1970

Gefangenen Info 340

Maurizio ist ein mailändischer Proletarier und hat in der Autoreifenfabrik Pirelli gearbeitet. Diese war damals eine sehr kämpferische und große Fabrik, die eine organisierte Arbeiterschaft hatte. Er war Mitglied der BR der ersten Stunde und ist schon 1974 in den Knast gekommen. Er war 30 Jahre lang politischer Gefangener und hat in dieser ganzen Zeit die Zusammenarbeit mit den Behörden verweigert. Er beteiligte sich an den Kämpfen der politischen Gefangenen aus den BR, was weitere Verurteilungen zu Folge hatte.

Kaum draußen, wurde er sofort wieder aktiv und engagierte sich in erster Linie im Kampf um die Haftbedingungen politischer Gefangener, beteiligt sich aber auch an den verschiedenen sozialen und politischen Klassenkämpfen draußen. Er lebt in Mailand im besetzten Zentrum Pannetteria Occupata.

1. Warum und mit welchen Forderungen entführten die Roten Brigaden vor 30 Jahren Moro?

In der “Frühjahrskampagne”, wie die Roten Brigaden (BR) die gesamte Operation nannten, die vor 30 Jahren zur Entführung, zum Prozess und schließlich zur Exekution des Präsidenten der Christdemokratischen Partei (DC) führte, stellten die BR keine Forderungen, sondern setzten sich ein Ziel. Das bestand darin zu beweisen, dass die revolutionäre Bewegung in Italien schon reif genug war, um konkret die Auseinandersetzung mit der feindlichen Klasse, der Bourgeoisie, den Knoten zur Eroberung der Macht, anzupacken. Die Parole, die dieses Ziel zusammenfasste, hieß “Den Angriff auf das Herz des Staates führen”, d.h. die Initiative der gesamten Parteiorganisation (die BR ausgehend von ihren Strukturen, den Brigaden, in den realen Lebens- und Arbeitssituationen des Proletariats in den Fabriken, Schulen, Stadtteilen, Gefängnissen…) gegen das herrschende Projekt der Bourgeoisie in einer bestimmten Phase zu führen. Im Frühjahr 1978 wie übrigens schon seit der Nachkriegszeit – genauer gesagt seit 1948 – wurde dieses Projekt von der DC durchgeführt, so dass man sie als Staatspartei in der Art der SED bezeichnen konnte. Insbesondere war es in dieser Phase das Hauptziel der Bourgeoisie, zu versuchen den Aufstieg der revolutionären Bewegung mit politischen Mitteln aufzuhalten, da die militärischen Mittel (die Massaker an der Piazza Fontana in Mailand vom 12. Dezember 1969 mit 16 Toten, dem der Piazza della Loggia in Brescia vom 28. Mai 1974 mit 8 Toten während einer Gewerkschaftskundgebung, und dem im Italicus-Express vom 4. August 1974 mit 12 Toten; außerdem die Genossinnen und Genossen, die direkt von Polizei und Carabinieri bei Demonstrationen umgebracht wurden) nur die gegenteilige Wirkung gehabt hatten – die Entstehung von Organisationen der kommunistischen und anarchistischen Stadtguerilla waren nur der evidenteste Ausdruck. Das politische Projekt, das durchgesetzt werden sollte, bestand im Versuch, die bürgerliche Legalität und die Repräsentativität des Staates im Bewusstsein und in der Praxis der Massen zu stärken, indem man die Regierungsebene für die Kommunistische Partei Italiens (PCI) und damit für die größte Gewerkschaft, die CGIL, öffnete. Eine historische Wende, die in klarem Gegensatz zu den vorherigen Jahrzehnten stand und erleichtert wurde durch den Weg, den die Partei nach dem Fall der Regierung der Unidad Popular in Chile im September 1973 einschlug. Daraus zog diese Partei nämlich den strategischen Schluss, den sie den “Historischen Kompromiss” nannte, d.h. die völlige Aufgabe jeder sozialistischen Hypothese, jeglicher vom Kapital unabhängigen proletarischen Initiative.

In der DC war es der Gruppe um Moro gelungen, sich mit ihrem Projekt durchzusetzen, die PCI in den Fabriken, den Schulen, der Stadtvierteln zu absorbieren und zu instrumentalisieren, um die bewusstesten Teile der revolutionären Bewegung zu isolieren und zu kriminalisieren, um dann jeglicher revolutionären Hypothese den Todesstoß zu versetzen. Indem die “Frühjahrskampagne” das Luftschloss der “nationalen Einheit” in die Luft fliegen ließ, zeigte sie der revolutionären Bewegung die dringende Notwendigkeit auf, über die eigene Zukunft und ihre konkrete Praxis zu reflektieren: den Sturz der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft zugunsten der Schaffung der kommunistischen Gesellschaft. Von heute aus gesehen kann man sagen, dass wir uns da übernommen hatten. Wenn die Generationen von heute und morgen vor einer revolutionären Phase stehen, die so zugespitzt ist wie damals 1978 in Italien, oder noch mehr, werden sie auf diese Erfahrung zurückgreifen müssen, um daraus ihre Lehren zu ziehen. Damals wurde die Entscheidung den Angriff auszulösen, für richtig gehalten, so wie die Genossen, die 1919-1920 die PCI gegründet hatten, es für richtig hielten, die Fabriken zu besetzen – worauf die Jahrzehnte folgten, die wir kennen [der Mussolini-Faschismus], oder wie man es im Deutschland von 1918-1919 für richtig hielt, den Aufstand von Berlin auszulösen usw.

2. Sind noch Mitglieder des Kommandos, die Moro entführten, im Knast?

Die Frage müsste eigentlich so gestellt werden: Wie viele der Personen, die im Zusammenhang mit der Entführung, dem Prozess und der Tötung Moros angeklagt und verurteilt wurden, sind heute noch im Knast?

Von den 32 vom Schwurgericht in Rom nach dem Prozess „Moro 1“ im Januar 1983 zu lebenslänglich verurteilten Personen hat, abgesehen von den wenigen, die zu „Reumütigen“, also Verrätern wurden, die große Mehrheit noch mit dem Knast zu tun. (In den späteren Jahren gab es noch weitere Prozesse „Moro 2“ bzw. „Moro 3“, an denen ein weiteres Dutzend Personen beteiligt war). Und zwar in dem Sinne, dass nach den gesetzlichen 16-21 Jahren Knast auf Antrag und nach dessen Genehmigung auch ein Lebenslänglicher in „Halbfreiheit“ entlassen werden kann, d.h. er kann tagsüber hinausgehen, um zu arbeiten, doch abends, jeden Abend, muss er wieder in den Knast zurückgehen. Der größte Teil dieser Genossinnen und Genossen führt seit zehn Jahren oder auch mehr ein solches Leben. (Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde 2008 geführt, heute – im Jahr 2023 – befinden sich einige Verurteilte nach über 40 Jahren auf halbem Weg in die Freiheit und andere sind nach Angaben der Behörden ins Ausland geflohen, um einer Verhaftung zu entgehen)

Zum Hintergrund der Zusammenarbeit von Christdemokraten und PCI

[…] Wodurch entstand das Gerücht, die Entführung von Aldo Moro sei vom Geheimdienst gesteuert worden?

Im Versuch, mit der breit verwurzelten revolutionären Bewegung fertig zu werden, die ihre Ursprünge in den Julitagen von 1960 (Aufstandsbewegungen in Genua, Reggio Emilia und Palermo gegen eine DC-Koalitionsregierung mit den Faschisten) und natürlich im Jahr 1968, in den Arbeiterkämpfen von 1969-1973 hat, setzte der Staat vor allem Massaker und Spione ein, doch dies erwies sich immer als nicht ausreichend und kontraproduktiv. Daher stammte die Idee der „nationalen Einheit“, des Einsatzes des politisch-ideologischen und physischen Apparates der PCI und der CGIL (kommunistischer Gewerkschaftsbund), die zur konterrevolutionären Intelligenz umgedreht wurden, in den Fabriken, Stadtteilen, Schulen, des gesellschaftlichen Lebens insgesamt. Diese Apparate machten sich Mitte der siebziger Jahre aus den hier nur kurz angedeuteten historischen Gründen bereit, „die Furt zu durchqueren“, wie der heutige Staatspräsident Giorgio Napolitano, der damals in der Führung der PCI saß, eines seiner Bücher nannte. Sie machten sich bereit, ins bürgerliche Lager überzuwechseln und versuchten, diesen Schritt zu gehen, ohne einen Funken der Achtung zu verlieren, den sie noch bei den arbeitenden Massen hatten – wäre dies nämlich geschehen, so hätten sie die für die Bourgeoisie und für sie selbst so notwendige Funktion nicht mehr ausüben können. Einzelne Arbeiter vor den Fabriktoren aufzuhetzen, die Betriebsversammlungen gegen die „Extremisten“ zu steuern, indem man sie in den schlimmsten Farben malt, war für diese nun bald verstaatlichten Funktionäre zur Verpflichtung geworden, in enger Abstimmung mit Carabinieri, Polizei, Staatsanwaltschaft, Richtern, kurz mit den Geheimdiensten, mit dem Staat. Sie kamen so unweigerlich in die Situation, das eigene Wahlvolk aufzufordern, diese „Autoritäten“ zu wählen und ihnen die Sitze im Parlament und im Senat zu verschaffen, und nicht den Arbeiterinnen und Arbeitern. […]

Zum “historischen Kompromiss” zwischen Christdemokraten und PCI

[…] Zuerst muss gesagt werden, dass weder der „historische Kompromiss“ noch die Partei, die ihn vorantrieb, das Projekt, der Feind waren, gegen den die BR gekämpft haben. Als solche waren jene nur Teil eines umfassenderen Projekts zur Zerschlagung der revolutionären Stärke des Proletariats in Italien, ein Projekt, zu dessen intelligentesten Architekten Moro gehörte. Natürlich ist mit dem Angriff das ganze Luftschloss ins Wanken geraten. Der „historische Kompromiss“ hinkte auf allen Seiten, die Bourgeoisie nutzte ihn so gut es ging aus und warf ihn dann auf den Müll. Das geschah aber erst einige Jahre später, in der Direktion der FIAT Mirafiori in Turin im September/Oktober 1980. In dieser heiklen Phase des Klassenkampfs setzte der Staat wieder einmal ein Massaker ein: Am 4. August ließ er im Wartesaal des Bahnhofs von Bologna eine Bombe explodieren, es gab 85 Tote. In den Monaten davor hatte der Staat den BR harte Schläge versetzt, so dass er wusste, dass sie nicht mehr in der Lage waren, mit so großer Intelligenz wie sonst in den Kampf der Arbeiterklasse bei FIAT einzugreifen. Die PCI hütete sich, außer allgemeinen Erklärungen und unmittelbarer Unterstützung, den Kampf auszuweiten, und die CGIL unterschrieb gegen die Arbeiter, aber zusammen mit anderen Gewerkschaftsverbänden das FIAT-Dokument, in dem die ersten Massenentlassungen bei FIAT seit 1950 vorbereitet wurden, d.h. die Kurzarbeit zu Null Stunden für 24.000 Arbeiter. Vor den Fabriktoren der FIAT starb vor den Augen der Arbeiter, die fassungslos und voller Wut und Ohnmacht die „Unità“ [Tageszeitung der PCI] verbrannten, auch der „historische Kompromiss“ […]

Zur Funktion Deformierung der revolutionären Geschichte

[…] Zusammen mit anderen wollen sie die jungen Generationen davon abhalten, eine revolutionäre Praxis zu beginnen, müssen dafür aber die Geschichte derer verdrehen, die diese revolutionäre Praxis versucht haben, und sie so umschreiben, dass sie Hinz das zuschreiben, was Kunz gemacht hat und z.B. den BR das Massaker vom 12. Dezember 1969 in die Schuhe schieben. So tragen sie dazu bei, dass das Proletariat geschwächt und auch weiterhin ausgebeutet und unterdrückt wird, indem sie seine Geschichte negieren, seine Orientierungskraft und seine Fähigkeit zu agieren, zu denken und den Horizont der Gesellschaft zu verändern. In diesem Sinne tragen sie eine große Verantwortung gegenüber dem Proletariat der ganzen Welt.

Mailand, 2. August 2008