„Die Frage ist nicht, ob wir Palästina unterstützen, die Frage ist, wie wir Palästina unterstützen“ Interview mit Aktiven der Gruppe FOR-Palestine

Wollt ihr euch kurz vorstellen? Wie lange macht ihr diese Arbeit, was sind eure Ziele?
Das erste Zusammentreffen war anlässlich der Tel Aviv-Beachparty – eine von der Israelischen Botschaft mitorganisierte Veranstaltung – im August 2015, ein Jahr nach dem Massaker in Gaza. Dort gab es eine Aktion und da haben wir festgestellt, dass wir gerne was zusammen organisieren, nahezu auf der gleichen politischen Ebene sind und uns in vielen Themen einig sind, obwohl wir teils sehr verschiedene politische Hintergründe haben. Wir wollten, dass das ganze in eine permanente, nachhaltige, politische Arbeit mündet.
Es gibt in Berlin nicht viele Solidaritätsgruppen für Palästina. Es gibt BDS Berlin (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel), sie ist teil der globalen BDS-Kampagne. Sonst gibt es keine Gruppen und deswegen war es uns wichtig, das als Gruppe zu machen.
Wir wollten gerne was kontinuierliches machen und nicht immer nur reagieren!

Was sind eure Ziele?
„For one state and return in Palestine“. Es ist nicht so, dass wir bestimmen möchten, wie das Leben und was für ein Staat dort ist. Wir wollen nicht über die Köpfe der Menschen dort hinweg entscheiden. Wir möchten aber Palästina in den Vordergrund stellen, als einen globalen Kampf gegen Kolonialismus und Kapitalismus. Wir möchten nicht nur die Solidarität, sondern Menschen haben, die sich als Teil des Kampfes verstehen. Es ist ein internationaler Befreiungskampf. Die palästinensische Flagge ist ein Symbol, das viele spaltet. Für uns ist sie ein Symbol des Kampfes in der dortigen Region, gleichzeitig  aber auch eine globale Frage. Wir fühlen uns  auch mit anderen antiimperialistischen Befreiungsbewegungen in dieser Welt verbunden und sehen uns als Teil dessen. Der Name ist allein schon Diskurs und macht schnell unsere Politik und Ausrichtung deutlich.
In Bezug auf unseren Namen ist es so, dass es unser Ziel war und ist, einen klaren Diskurs in diese Debatte mit reinzutragen. Es gibt viele Personen und Gruppen, die sagen „ja, wir sind für Palästina“. Aber Palästina stellt für sie nur Westjordanland und Gaza dar, d.h. für sie besteht Palästina aus den Grenzen von 1967. Ein Palästina ohne eine Lösung für die über 7 Mio. palästinensichen  Flüchtlinge (die Vertriebenen und ihre Nachkommen), die außerhalb in den Lagern unter schlimmen, perspektivlosen Bedingungen leben. Das Problem Palästinas hat nicht 1967 angefangen und beinhaltet nicht nur den Bevölkerungsteil, der sich heute zwischen Jordanien und Mittelmeer befindet. Es ist eines unserer wichtigen Ziele, diese Debatte dahinzulenken und die Situation Palästinas als eine koloniale Situation und koloniale Geschichte zu verstehen, die bereits vor 1948 begann.
Weitere Ziele sind, die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen ausbauen, unsere Präsenz ausweiten, nicht immer nur auf Vorwürfe reagieren zu müssen und eine Quelle für die theoretische Arbeit zu diesem Thema zu sein. Die Palästina-frage ist eine Rassismusfrage, die wir aus dem Tabubereich rausholen wollen, um einen differenzierten Blick auf das Thema zu schaffen.
Eines unserer Hauptpunkte ist es auch, an dem hegemonialen Diskurs zu arbeiten und das Thema Palästina mit linken Themen zu verbinden. Wir können nicht über Kapitalismus, Imperialismus und Rassismus reden, ohne das Thema Palästina zu erkennen. Es sollte das Thema jeder Person sein, die sich als links versteht. Es braucht auch theoretische Arbeit. Aber speziell in Deutschland braucht es Aktionen, um die theoretische Arbeit in den Diskurs zu tragen.
„One State“ deshalb, weil für uns eine Zweistaatenlösung keine Lösung ist. Eine Einstaatenlösung, die Gerechtigkeit für alle garantiert und Privilegien für geschlechtliche, ethnische und religiöse Gruppen ausschließt. Was 1947/48 passiert ist, wird vor allem in Deutschland vergessen oder verschleiert. Es war die Zuspitzung einer kolonialen Bewegung bzw. Situation. Heutzutage ist es einfach, den Zionismus als eine nationale Befreiungsbewegung aller Juden als große Antwort auf den deutschen Faschismus zu sehen. Wir versuchen darüber aufzuklären, dass der Zionismus als eine europäische, bürgerliche Kolonialbewegung angefangen hat, die für den Antisemitismus in Europa eine ganz bestimmte Lösung vorgeschlagen hat bzw. die gezwungene Migrationswelle für sich nutzen konnte, da andere Staaten wie z.B. die USA, keine Jüd*innen mehr aufnahmen. Dieser Lösungsansatz wurde nicht von allen Betroffenen geteilt und war bis zum Krieg auch nicht so verbreitet. Der Holocaust und die Ereignisse in Europa, die durch den deutschen Faschismus ausgelöst wurden, haben diese nationale Kolonialbewegung zu einer Art Befreiungsantwort auf den Genozid gemacht. Deswegen ist es auch wichtig zu verstehen, was ist in Palästina Anfang des 20.Jahrhunderts passiert ist: Wie wurde damals das Land nach und nach kolonialisiert? Was ist nach dem britischen Mandat im Land passiert? In Deutschland verstehen es viele nicht. Hier gibt es den Holocaust und 1948 dann den jüdischen Staat und das war es dann. Die Zusammenhänge werden nicht erkannt. Die Staatsgründung, für die Palästinenser*innen die Nakba ( Katastrophe), kam nicht automatisch nach dem Holocaust. Die Kolonalisierung Palästinas begann bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Trotzdem ist der Holocaust und die Vetreibung der Jüd*innen nach dem 2. Weltkrieg ein wichtiger Bestandteil der Staatsgründung.
Man muss verstehen, dass es sich bei der Besetzung Palästinas um koloniale Bestrebungen handelte, die auf Rassimus basieren.
Die Kolonialgeschichte und der dahinter stehende Rassismus sind ein Knackpunkt für viele linke Gruppen hier, welche das alles aus einer eurozentristischen Sichtweise heraus betrachten. Diese europäische Linke, die die Interpretationshoheit über die Entwicklungen dort für sich gepachtet hat, setzt sich über die dort kämpfenden Bewegungen hinweg und möchte dominieren. Sie verfügen über Theorien und vor allem über die Zeit, sich diese Theorien anzueignen. Politisch haben sie aber keine Ahnung.
In der Linken wird oft die Solidarität entzogen, bzw. die Menschen machen gar nicht erst den Schritt – wenigstens im Geiste – Teil der Bewegung zu sein. Palästina ist dieses Lackmuspapier,  der Umgang hier im Lande ist ein Rassismusproblem und das muss auch ganz klar benannt werden.
Es ist schwer. Wir kommen immer wieder auf Palästina, da sich hier zeigt, wer antimuslimischen Rassismus, den deutschen Diskurs zu Palästina, Rassismus, Selektivität ( Kurdistan ja, Palästina nein) verinnerlicht hat. Viele Gruppen, die sich links betrachten, verstehen nicht, dass es rassistisch ist, solche Unterdrücker zu unterstützen. Dieser Diskurs muss geändert werden. Palästina ist ein Symptom des Imperialismus. Darum kommen wir auch immer wieder auf Palästina zurück, weil das Thema Palästina zeigt, dass eine bestimmte Hegemonie gelebt wird. Dabei geht es immer um das Existenzrecht des Unterdrückers, niemand redet von dem Existenzrecht der Palästinenser*innen. Ich sehe es bei den Gruppen, die mit uns die Zusammenarbeit suchen. Sie wissen, es ist ein Lackmuspapier und sie sind sich bewusst, das – wenn sie mit uns arbeiten – die Fronten ganz klar sind. Das ist gut und wichtig, um einen klaren Weg in der Linken in Deutschland einzuschlagen. Es ist wichtig, dass sich linke Gruppen und Personen bezüglich Palästina positionieren. Viele haben  Angst davor, oder wollen ihre Privilegien nicht verlieren.
Ein oft begangener Fehler in der Linken ist es, auf der Welle des anti-muslimischen Rassismus mitzureiten. Dann fangen sie an, unreflektiert über die Hamas, als eine Ursache für das ganze palästinensische Leiden in Gaza, zu reden. Hamas hat vorher nicht existiert. Hamas existiert seit kurzer Zeit verglichen mit der Zeit der Okkupation Palästinas. Viele verlangen zunächst die Distanzierung von der Hamas, aber diese selektive Solidarität brauchen wir nicht! Sie verstehen nicht, dass Hamas für die Palästinenser*innen ein Teil des Volkes ist. Sie trauen den Palästinenser*innen nicht zu, mit ihren eigenen Organisationen umzugehen. Hamas stellt gerade den bewaffneten Widerstand im Gaza dar .

Wie sieht es mit Solidarität der linken Gruppen für eure Arbeit aus?
Das beste  Beispiel für das „Lackmus-Papier“ ist der 1. Mai gewesen. Es war wichtig und gut, dass wir angefragt wurden, denn linke Gruppierungen wollten dieses Thema mit in ihren Block tragen. Sie wollten ein ganz klares Zeichen setzen. Es hat sich gezeigt; wenn wir und BDS Berlin unsere Themen im größten Bündnis Berlins vertreten, dann ist ganz klar, wer wo steht. Als diese erbärmlichen Provokationen von Ökolinx kamen, wurde nochmal deutlich, wer dazu steht, wer keine Stellung nehmen will und wer dagegen ist. Jegliche Solidaritätsarbeit zu Palästina wird dämonisiert, als wären die Palästinenser*innen für den Holocaust verantwortlich. Die Palästinenser*innen und das ganze palästinensische Thema ist eine Projektionsfläche von vielen Deutschen. Es geht sehr viel um Geschichte, Geschichtsaufarbeitung und um ein kollektives Schuldgefühl. Sie schaffen sich ein neues Feindbild des Antisemiten, um sich reinzuwaschen. Es gab auch uns und einer weiteren Gruppe gegenüber rassistische Äußerungen. Die andere Gruppe bestand hauptsächlich aus P.o.C´s (People of Colour- nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft, aufgrund von äußerlich zugeschriebenen Eigenschaften der Diskrimnierung ausgesetzt, Red.). Sie wurden sofort mit uns in einen Topf geworfen, plötzlich hieß es, ein drittel des internationalen Blocks sei „FOR Palestine“. Dieses Bündnis hat viel über die berliner Linke ausgesagt. Geflüchtete Menschen, welche aus direkten, nicht theoretischen Kämpfen kommen, wurden einfach übergangen. Es kam auch der Spruch: „Wir müssen die Linke und die Migranten zusammenbringen.“ Als ob die Migranten selbst keine politischen Subjekte wären.
Dass diese Themen aufkamen, lag auch an Palästina. Um Druck auszuüben, kam der Ausschlussantrag für BDS und FOR Palestine. Es gab einige Gruppen, die sehr gut argumentiert und diskutiert haben und ihrer ideologischen Linie treu geblieben sind, ohne Abstriche zu machen. Der Antrag wurde abgelehnt und Ökolinx sind aus dem Bündnis ausgetreten. Auf der Demo gab es dann Provokationen durch Menschen mit Israelfahnen. Es ist so, als würde jemand zu einer Oury Jalloh-Gedenkveranstaltung mit einer Dessauer Polizeifahne kommen. Diese Provokationen wurden von zionistischen Gruppierungen auch gefilmt und später im Netz veröffentlicht, um das Bild der antisemitischen Migrant*innen zeichnen zu können. Bei der My Right is your Right-Veranstaltung (Carnival al Lajin- Karneval gegen Rassismus) haben wir viel zur Organisation beigetragen. Wir und BDS waren in diesem Bündnis und einen Tag vor dem Karneval wurde ein Sondertreffen einberufen, wo es dann plötzlich hieß, palästinensische Flaggen seien verboten und kurdische- oder Romaflaggen erlaubt. Eine große amerikanisch-zionistische Lobbyorganisation (AJC-American Jewish Comittee) hatte sich beschwert und der Veranstaltung die  Zusammenarbeit mit Antisemit*innen unterstellt. Es ist dieselbe Lobbyorganisation, welche in einem Video in der Flüchtlingsunterkunft Tempelhof zusammen mit Welt.de versucht hat, den Antisemitismus bei geflüchteten Menschen aufzuzeigen. Die verschiedenen Berliner Theater, die an der Veranstaltung mitbeteiligt waren,  gaben ihren Forderungen nach. Die großen Medien haben sich bei der Veranstaltung nur darauf konzentriert, die palästinensischen Flaggen zu filmen, um den vermeintlichen Antisemitismusvorwurf zu bekräftigen. Wir haben uns dann entschieden, aus diesem Bündnis auszutreten. Diese Ausgrenzungsversuche gingen soweit, dass auf einer Demo im Stadtteil Wedding letztes Jahr, welche als Reaktion auf die brennenden Lager und die Situation der Geflüchteten stattfand, eine Neuköllner Gruppe Menschen mit dem Aufdruck „Free Gaza“ auf ihren T-Shirts und Menschen, welche die Kufiya trugen, aus der Demo vertreiben wollten. Uns ist klar, dass der Widerstand, den wir bringen, auch Aufklärungsarbeit ist. Wir beschränken uns da auch nicht auf Palästina, es geht uns um Rassismus, aber auch um andere Unterdrückungsformen wie z.B. Geschlechter-identität oder ganz klar den Kapitalismus. Wir wollen sichtbarer werden und den Widerstand stärker machen, wenn in Berlin gegen Rassismus, Kapitalismus, Sexismus und andere Unterdrückungsformen auf die Straße gegangen wird, sind wir auch dabei.

Wie sieht es mit der Solidarität außerhalb des deutschsprachigen Raumes für pro-palästinensische Arbeit aus?
Die 2005 ins Leben gerufene, pro-palästinensische BDS-Kampagne, die von einem Großteil der palästinensichen Zivilbevölkerung getragenen wird, scheint – speziell in den USA – den Mainstream erreicht zu haben. In Schottland z.B. ist BDS schon im Parlament diskutiert worden. Diese Form der Entradikalisierung hat an diesen Punkten auch Erfolg gehabt. Das ist gut für die Palästinenser*innen, soweit wir das einschätzen können. Für uns als Linke ist es aber eine Herausforderung. Es ist ein schmaler Grat auf diese Weise für die palästinensische Sache zu kämpfen. Es entradikalisiert das Thema und wird eher zu einer Menschenrechtssache. Vor 4o Jahren galt die Solidarität der Linken eher Gruppen wie der PFLP und anderen bewaffneten, linken Gruppen. Heute besteht die Solidaritätsbekundung von liberalen Student*innen in  den USA darin,  einen offenen Brief an Carlos Santana zu schreiben und ihn darum zu bitten, nicht in Tel Aviv aufzutreten. Es hat sich viel verändert. Es geht nicht mehr darum, eine Bank zu überfallen, um Geld für eine Flugzeugentführung zu haben. Wir müssen einen politischen Umgang mit diesem Status Quo finden.

Vielen Dank und viel Erfolg weiterhin.