„Vernichtete Familien“ Interview mit Anne Paq

Interview mit Anne Paq, Mitbegründerin der Internetdokumentation „obliteratedfamilies.com“, welche die Schicksale von Familien nach Israels verheerender Offensive von 2014 in Gaza dokumentiert.

Hallo, magst du dich und das Projekt vorstellen?
Ich bin eine französische Fotografin und habe fast ein Jahrzehnt in Palästina verbracht. Ich bin ein Mitglied von Activestills, ein Fotokollektiv aus Israel und Palästina. Wir sind aus dem Palästinensischen Kampf entstanden. Auf Demonstrationen haben wir uns als Fotografierende kennengelernt. Es ist übrigens auch das 10. Jahr dieses Kollektivs. Ich habe mich auf die palästinensische Sache fokussiert, speziell auf die palästinensischen Geflüchteten. Ich habe in einem palästinensischen Geflüchtetenlager gearbeitet und dort Fotografie und Video-Projekte gemacht.
Ich bin 2003 das erste mal nach Palästina, durfte bis 2010 aber nicht nach Gaza, ich war auch die einzige aus unserem Kollektiv die nach Gaza durfte. Von 2010 an war ich mehrere Male in Gaza. Ich habe verschiedene Dokumentationen über die Besatzung gemacht, die Gesellschaft in Gaza, aber auch eine Arbeit über die alternative Szene in Gaza und die Künstler*innen. Es war mir wichtig zu zeigen, dass Gaza auch eine lebendige und vielfältige Gesellschaft ist. In 2012, als die Militäroperationen starteten, war ich in Gaza, um eine Reportage über Drachen zu machen, welche dort „Fliegendes-Papier“ heißen. Doch die Offensive startete und ich blieb da, um die Folgen der Offensive für die Zivilbevölkerung zu dokumentieren. 2012 war es eine Woche von Attacken und Bombardierungen, 2014 waren es 51 Tage. Ich habe Palästina 2013 verlassen, aber genau beobachtet was dort passiert. Palästina ist ein großer Teil von meinem Leben, dort bin ich auch zu einer Fotografin herangewachsen. Als Aktivistin ist Fotografie mein Werkzeug, um die Geschichten zu erzählen und die Ungerechtigkeiten aufzudecken. Als ich die Spannungen im Juni 2014 wahrgenommen habe, war ich besorgt. Es gab Gerüchte über eine neue Offensive in Gaza, als es begann entschied ich mich nach Gaza zu fliegen und soviel wie möglich zu dokumentieren.
Ich habe Ala Qandil getroffen, eine Polnisch-Palästinensische Journalistin und die Co-Autorin der Web-Dokumentation. Wir haben zusammen gearbeitet, Tag und Nacht. Ich habe die Fotos gemacht und sie die Geschichten gesammelt. Es waren 51 Tage gnadenloser Bombardierungen, es ist unglaublich was die Menschen durchgemacht haben. Es ist sehr schwer wie schwer die Menschen getroffen wurden, nicht nur die Anzahl der zerstörten Häuser und der vertrieben Menschen, es geht auch um das Trauma was später dazu kommt. Diese Traumata sind und wurden nicht ausreichend dokumentiert. Es wurden mehr als 2200 Menschen umgebracht, mehr als 70% dieser Menschen waren Zivilisten. Im Sommer 2014 gab es eine Armada von Journalist*innen und Medien-Teams, welche die Geschehnisse dokumentierten, aber als ich im September zurückkam war fast niemand mehr da. Es hat mich schockiert, es gab noch soviel zu berichten, doch schien es für die Medien nicht attraktiv genug zu sein. Ich wollte einige der Familien, die ich schon fotografiert hatte, wieder treffen. Es war unerträglich die Leichen so vieler Menschen zu fotografieren, ohne zu wissen wer sie waren, was mit ihnen passiert war. Es wurden ganze Familien umgebracht. Ich war auf einer Beerdigung der Abu Jame Familie. 25 Familienmitglieder wurden umgebracht, unter denen waren  19 Kinder. Es gab nicht genug Platz in dem Familiengrab, um sie alle zusammen zu beerdigen. Wie könnte ich die Beerdigung der Shuheibar Kinder vergessen? Drei Kinder dieser Familie wurden am helllichten Tag von einer Rakete getroffen, als sie auf dem Dach waren, um die Tauben zu füttern. Ich wollte mehr darüber erfahren, was diesen Familien widerfahren ist und wie die Überlebenden damit umgehen. Ein UN Bericht sagt, dass 142 Familien drei oder mehr Personen verloren haben. Das ist schockierend. Großeltern, Kinder, ganze Generationen wurden ausradiert. Solch ein Bericht sagt nichts aus über den Schmerz der Hinterbliebenen oder wer die Opfer waren. Mithilfe des „Al-Mezan centre for human rights“ in Gaza lernte ich noch mehr Familien kennen. Das Projekt wurde immer größer, am Ende habe ich 53 Familien besucht.
Nun stellte sich die Frage, wie wir ihre Geschichten am besten erzählen könnten. Es entwickelte sich die Idee mit der Web-Dokumentation. Mit diesem Format waren wir in der Lage Fotos, Videos und Texte einzubauen um ein intimes Portrait zu schaffen. Das Projekt haben Ala Qandil und ich gemeinsam entwickelt und sind noch mehrere Male nach Gaza gefahren. Mittlerweile haben Dutzende Menschen zu diesem Projekt beigetragen. Es geht uns darum, eine solide Dokumentation der Familien zu haben, ein Nachruf für die Menschen die getötet wurden. Für die Überlebenden und ihrem Ruf nach Gerechtigkeit soll es eine Plattform sein. Das Publikum wird mit eingebunden, es gibt eine Online-Ausstellung, welche runter geladen werden kann, um die Bilder und Geschichten zu verbreiten.
Dieses Projekt hat sich sehr organisch entwickelt. Wir haben es ohne ein großes Budget gemacht, am Schluss mussten wir eine Crowdfunding- Kampagne starten.
Dieses Thema ist für die Mainstreammedien nicht interessant. Es wird schwer, wenn du anfängst über Palästina, Gaza über Kriegsverbrechen und Gerechtigkeit zu sprechen. Die meisten Medien wollen nicht darüber berichten. Wir waren darauf angewiesen dieses Projekt unabhängig zu machen, was es schwerer machte für uns, gleichzeitig hatten wir dadurch die Möglichkeit zu sagen was uns wichtig war. Bei Veranstaltungen und Ausstellungen weisen wir auch immer darauf hin, dass Israel hier der Täter ist. Israel ist es aber nur möglich so zu agieren, weil sich die anderen Staaten als Komplizen verhalten. Es ist kein Konflikt der weit weg ist. Wir sind alle ein Teil von diesem Konflikt. Veröffentlicht wurde diese Dokumentation zum 2. Jahrestag der Angriffe.

Wie schwer war es Kontakt und Vertrauen zu den Familien aufzubauen?
Es war sehr schwer, da die Menschen noch am Trauern waren. Während der Angriffe war es kaum möglich Informationen zu erhalten. Ich habe versucht Namen und Adressen zu erhalten und als wir zurückkamen nach Gaza hatten wir wenigstens einige Anhaltspunkte, um die Familien wieder zu finden. Als Journalistin ist es schwer, du kommst in dem Moment der Trauer an, sie sind traumatisiert und da stehst du und stellst Fragen und machst Fotos. Sie mussten ihre Geschichten immer wieder und wieder erzählen. Die NGO´s vor Ort haben auch ihre Mitarbeiter*innen losgeschickt, um die Geschichten zu sammeln. Gleichzeitig arbeiten wir an einem Projekt, welches wir für sinnvoll halten und wofür wir detaillierte Informationen benötigen. Ich hatte keine feste Strategie, es variierte von Familie zu Familie. Einige Male kamen Zweifel an der Arbeit auf, aber ich hatte immer das große Bild vor Augen. Die Tatsache, dass ich einige Jahre in Palästina gelebt habe war auf jeden Fall hilfreich, ich war keine total Fremde. Von den ganzen Familien, die wir dokumentierten, haben wir uns für zehn Familien entschieden und Ala Qandil kehrte wieder nach Gaza zurück um ihre Geschichten zu sammeln.

Was erwarten die Familien von diesem Projekt?
Das ist individuell sehr unterschiedlich. Ich möchte zurück nach Gaza, um ihnen die Internetseite, das Booklet und die Fotos zu zeigen. Wir haben ihnen das Projekt erklärt, wir wussten aber selber nicht wie es fertig aussehen würde. Ich glaube, dass viele von ihnen hoffen, dass ihre Geschichten in einer respektvollen Art und Weise erzählt werden, ihre Geschichten nicht vergessen werden. Einige Familien haben die Hoffnung, dass sich dadurch etwas ändert, die meisten jedoch haben sich keine Illusionen gemacht, waren aber trotzdem bereit mitzuwirken.

Gibt es eine Unterstützung für die Kinder?
Es gibt eine sehr oberflächliche Hilfe obwohl die Traumata sehr tief sind. Die meisten wollen noch mehr humanitäre Hilfe für Gaza. Anstatt der 20 Lkw mit Hilfslieferungen, wird überlegt wie Israel dazu gebracht werden kann, 40 LKW zu senden. Der einzige Weg zu helfen wäre politisch. Als Kind kannst du dich gesund entwickeln, wenn du frei bist, das sollte der erste Schritt sein. Nach der Offensive gibt es immer noch die Besatzung, tägliche Angriffe von Israels Seite aus, die Drohnen und natürlich die F-16 fliegen immer noch über Gaza. Andere Staaten schicken Geld nach Gaza und vermeiden so die politische Auseinandersetzung mit Israel. Die Situation der Kinder ist fatal. 3 große Offensiven in 6 Jahren, das kannst du nicht vergessen. Jede Familie hat mindestens ein totes Mitglied zu betrauern. Das tägliche Leben ist sehr schwer, schlechte Ernährung und kontaminiertes Wasser. Es ist ein langsamer Tod, während der Offensiven ist es ein schneller Tod. Israel, welcher Gaza bombardiert hat, lässt auch den Wiederaufbau langsam vorangehen. Jeder Sack Zement wird kontrolliert. Einige Menschen konnten es sich leisten Gaza zu verlassen, die anderen blieben in diesem apokalyptische Szenario. Auch wenn die letzte Offensive die brutalste war seit 1967, war es trotzdem nichts außergewöhnliches, es ist ein Teil von diesem kolonialen Siedler-Projekt, das diese Menschen seit Jahrzehnten unterdrückt. Es wird eine neue Offensive geben und wir sollten unsere Solidarität zeigen bevor die Angriffe starten, sonst werden sie noch brutaler und tödlicher werden.

Danke für das Interview