Die iranische Arbeiterbewegung und ihre Organisationen | Teil 7: Die Machtfrage und die Linken

„Der Frühling der Freiheit“1

Der revolutionäre Aufstand trug süße Früchte. Nach fast 25 Jahren Verbot der Gewerkschaften wurden neue Einzelgewerkschaften aufgebaut. Nach dem CIA-Putsch von 1953 wurden nämlich die Arbeiterorganisationen verboten, aber unter staatlicher Kontrolle, vor allem der Kontrolle der Geheimpolizei, wurden neue „Gewerkschaften“ geschaffen: gelbe Gewerkschaften. Fast alle bedeutenden kommunistisch orientierten Parteien – unabhängig von ihrer politischen Haltung zur ausgerufenen islamischen Republik – beteiligten sich aktiv an der Organisierung dieser oder jener Gewerkschaft, je nach ihren Schwerpunkten und der zur Verfügung stehenden Kader der jeweiligen linken Organisationen.
Die Idee einer Rätedemokratie verbreitete sich bereits stark während der monatelangen Proteste auf der Suche nach einer neuen Gesellschaftsordnung. Selbst die islamische Volksmodjahedin zitierte Religionsquellen, die die Bildung solcher Räte befürworteten. Dem konnten die neuen Ayatollahs nicht leicht widersprechen, sie versuchten dennoch die Aufgabe und die Zuständigkeit der Räte völlig anders zu interpretieren und auszulegen, so dass dies deren vollständiger Entmachtung gleichkam. Hier zeigte sich eben der Pragmatismus der Islamisten gegenüber der Revolution. Es gab kaum einen Betrieb, in dem nicht über das Eigentum an Produktionsmitteln und über Arbeiterräte diskutiert oder zumindest eine genossenschaftliche Versorgung der Beschäftigten mit Lebensmitteln organisiert worden wäre. Die Mullahs reagierten darauf mit der Bildung von sog. islamischen Räten und zentral gelenkten Sicherheitskontrollen, den „Khaneh Kargar“ („Arbeiterzentrum“). Doch diese islamischen Räte agierten ganz im Interesse der „Eigentümer“ und wurden teilweise mit einflussreichen Mullahs besetzt.
In den Schulen des Landes wehte ein neuer Wind. Abertausende Schüler-initiativen starteten, die von fortschrittlichen Lehrern unterstützt wurden. Sie artikulierten sich zu allen Fragen der Bildung und der Schulpolitik bis hin zu Schulbuchinhalten. Die Antwort der Mullahs waren islamische Schulräte. In der Praxis sah man in ihnen Spitzel- und Repressionsorgane in den Schulen im Dienste des Regimes. An den Unis zeigte sich das gleiche Bild. Die Verwaltungsräte an den meisten Universitäten kamen durch Wahlen zustande – ein vor der Revolution völlig unbekanntes Phänomen.
Die in der Schah-Zeit unterdrückte Arbeiterliteratur war plötzlich da: tausende Buchtitel vom Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus bis hin zur neuen Pädagogik und Psychologie. Sie wurden preiswert und massenhaft hergestellt. Die Umschläge waren aus Kostengründen weißer, dünner Karton. Diese bisher zensierte Literatur bekam den Namen „Bücher mit dem weißen Umschlag“.
Fortschrittliche Kunst und Kultur gestalteten den Alltag der neuen Zeit. Schulsäle und Mensen wandelten sich in Ausstellungsräume, Theater und Kinos. „Abbass-Agha, Kargar-e Iran-National“ (Abbass-Agha, der Arbeiter der [Autofabrik] Iran-National) ein Theaterstück von Saiid Soltanpour2 sorgte landesweit für Diskussionen und wurde für die Mullahs, deren Schergen allabendlich vor der Aufführung die Theaterbesucher drangsalierten, ein Dorn im Auge.
Der Optimismus und der kollektive Kampfgeist, der solidarische Umgang miteinander und die politische Streitkultur boten – trotz ihrer Unreife – überall ein beeindruckendes Bild.

„Kornfelder wandelten sich in Blut-Wogen“3

Torkmansahra, der südliche Teil von Turkmenistan, liegt im Norden des Iran und an der Grenze zur damaligen Sowjet-Republik, dem heutigen Turkmenistan – das Land der Turkmenen.
Die herrschende Produktionsweise im wasserarmen Torkmansahra war eine rückständige Landwirtschaft im Großgrundbesitz. Die industrielle Entwicklung des Irans streifte diesen Landesteil kaum. Schon zu Beginn der Pahlawie-Dynastie (1921) wurden viele große Ländereien, ja sogar Teile der mittelgroßen Scholle vom Kaiserhof inspiziert. Manche dieser Farmen wechselten als Belohnung in den Besitz hochrangiger Militärs und besonderer Untergebenen des Schahs. Für mehr Ausbeutung und besseren Ertrag gingen sie mit den verarmten Bauern und Untertanen nicht zimperlich um. Einige, wie Major Batmanghelitsch, erlangten für ihren grausamen Umgang mit den Untergebenen landesweiten schrecklichen Ruhm.
Selbst die ereignisreichen Jahre der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erreichten Torkmansahra kaum. Auch der Einfluss der Tudeh-Partei war nach dem Putsch 1953 vollständig verschwunden. Erst in den 60er Jahren – mit der Rückkehr der an den entfernten Universitäten politisierten Absolventen und ihrer Initiativen – kamen Schüler und Jugendliche erstmals mit Themen wie Ausbeutung und nationale Frage in Berührung. Jegliche offene Versuche wie z.B. Gründung einer Jugendbibliothek wurden abrupt von den Sicherheitsorganen unterbunden. 1971 wurden mehr als 20 junge turkmenische Intellektuelle wegen Gründung des „Kulturzentrums“ von der SAVAK verhaftet und für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt. Aber es gab auch Hochschulabsolventen voller Elan und Tatendrang, die an den Unis den Kampf der Volksfedaijen kennenlernten; sie griffen dennoch selbst nicht zur Waffe. Das einzige „soziale“ Projekt stammte ausgerechnet von einem US-Amerikaner namens Barkley Moor, einem Theologen. Er schickte einige Schulabsolventen mit Stipendien ausgestattet in die USA. Moor leitete als „Friedensmission“ eine US-Einheit in der Region, in der die riesigen militärischen Abhöranlagen entlang der sowjetischen Grenze installiert wurden. In Wahrheit kundschafteten seine Untergebenen zur Sicherung der Spionagestationen diese Gegenden aus.
Parallel zu den politischen Entwicklungen im Iran ab 1978 verstärkten die Volksfedaijen ihre Aktivitäten in den Städten und Dörfern von Torkmansahra: Open-Air-Ausstellungen und Versammlungen. Das neu gegründete „Kulturzentrum“ wurde erweitert und später in „Kultur- und politisches Zentrum des turkmenischen Volkes“ umbenannt. Sie verbreiteten unter den Bauern die Idee einer Räterepublik auf Basis landwirtschaftlicher Kooperativen. Die Verbindung mit der Zentrale der Volksfedaijen führte zur Entsendung mehrerer Kader in die Region. Bei den ersten Demos in den drei Städten der Region wurde gerufen:

„Nieder mit dem Schah! Nieder mit Blutsaugern und Unterdrückern! Rückgabe der enteigneten Scholle!“
„Schule und Unterricht turkmenisch! Autonomie oder Tod!“
„Die Scholle dem Bauern und den Fischfang dem Fischer!“4

Mehrere Demonstranten wurden dabei erschossen. Aber die Enteignung der Großgrundbesitzer begann mit Rückendeckung der bewaffneten Volksfedaijen. Laut Forderung des Minimalprogramms der Volksfedaijen „die Scholle dem, der darauf arbeitet“, fanden die Aktionen große Zustimmung und Begeisterung bei den Bauernfamilien. Aber die Ländereien wurden nicht in kleine Parzellen geteilt, sondern ökonomisch effektiv in großen Kooperativen bewirtschaftet. Hier war der Kern der Auseinandersetzungen innerhalb der Kooperativen bzw. Bauernräte. Vertreter eines kleinbürgerlichen Bauerntums beanspruchten individuelles Eigentum und Entscheidungsrecht im Gegensatz zur starken Mehrheit, die hinter dem Programm der Volksfedaijen standen. Von diesem Konflikt leiteten sich weitere Probleme zur Organisation und nationalen Fragen ab. Die kleinbürgerliche Haltung lehnte die Unterordnung der nationalen Frage unter die gesamtpolitische Klassenfrage ab.
Die Entscheidungen der Kooperativen wurden von allen Beteiligten getroffen. Allerdings in Zusammenhang und koordiniert mit allen anderen Kooperativen und weiteren relevanten Fragen unter dem Dachverband „Zentralstab der Räte Torkmansahras“. Dieser war in allen technischen, sozialen, ökonomischen und politischen Fragen eine Anlaufstelle für alle Bauern. Bei den öffentlichen Tagungen kamen hunderte Delegierte aus der gesamten Region zusammen. Diese Konflikte führten jedoch zu keiner Spaltung. Auch der Minderheit war der Einfluss außenstehender Parteien nicht gleichgültig, denn allen war klar, welch große Gefahr draußen lauerte. Die Beratungen der Bauernräte wurden durch kulturelle Beiträge begleitet und bereichert, bei denen sich die Widerstandselemente in der traditionellen Bauernkultur mit der modernen internationalistischen Kultur verbanden.
Jahrzehntelang, bis zur revolutionären Entwicklung und vor der Entstehung des „Zentralstabs der Räte Torkmansahras“, wurde ständig die religiöse Karte, nämlich Schiiten (Zentrum des Irans, Minderheit in der Region) gegen Sunniten (Einheimische), ausgespielt. Der revolutionäre Aufstand in Torkmansahra durchbrach die gesamte Machtarithmetik. Jetzt standen die Klassengegensätze anstelle falscher Feindseligkeiten offen und klar im Vordergrund. Dies konnten alle, ob alt oder jung, Analphabet oder Akademiker, Mann oder Frau genau erkennen und nachvollziehen. Den Volksfedaijen war es gelungen binnen weniger Wochen die Spreu vom Weizen zu trennen; das bleibt bis heute eine unbestreitbare Tatsache.
Die Großgrundbesitzer und ihre Schergen, Polizei, Gendarmerie, SAVAK- Provokateure, schwarze Banden und vor allem die sunnitischen Würdenträger, die sich bisher als Widersacher der schiitischen Führer positionierten – allesamt krochen sie unter Khomeinis Aba (Aba ist ein Überwurf, den schiitische Geistliche  tragen). Es standen sich de facto für mehr als ein Jahr zwei Staaten in Torkmensahra gegenüber.
Den Henkersknechten ist es immer wieder gelungen, terroristische Anschläge gegen Funktionäre der Räte auszuüben. In der Nacht vom 7. Februar 1980 wurden vier Leitungsfunktionäre des Zentralstabs der Räte Torkmansahras, die in der Vorbereitung einer Großdemonstration aus Anlass des Jahrestages der Organisation der Volksfedaijen in einem Auto unterwegs waren, nach einem vorbereiteten Plan gekidnappt, heimlich nach Teheran gebracht und gefoltert. Einen Tag später – zurück in der Region – wurden sie ermordet5 und ihre Leichen unter einer Brücke verscharrt. Sehr schnell verbreitete sich diese Nachricht; binnen weniger Stunden kam es zu mehreren Spontandemonstrationen. Allein in Teheran, 600 Kilometer von Torkmansahra entfernt, nahmen über 60.000 an einem Protestzug teil. Das islamische Regime war zu dieser Zeit noch nicht etabliert. Die Islamisten fürchteten einen großen Aufstand. So leugneten sie zu dieser Zeit vehement und wiederholt jegliche Beteiligung an diesem Verbrechen. Sie brauchten einige Zeit, um sich offen und stolz dieses Verbrechens zu rühmen.
Zwei Kriege benötigte der islamische Staat, um das sowjetische Torkmansahra nach einem Jahr niederzuwerfen. Damit die islamische Regierung dort ihre Macht durchzusetzen vermochte, wurden das Heer mit schweren gepanzerten Waffen, Luftlandeeinheiten und Pasdaran zur Niederschlagung und Ausrottung der neuen Lebensweise in Torkmansahra beordert. Die vormalige Guerillaorganisation Volksfedaijen organisierte den bewaffneten Widerstand des turkmenischen Volkes nur mit leichten Handfeuerwaffen.

Heldenhafter Widerstand der Kurden

Schon bevor in Teheran durch einen Schachzug General A. Gharabaghi, Generalstabschef der iranischen Streitkräfte, die Fronten wechselte und sich auf die Seite Ayatollah Khomeinis stellte (GI 400), eroberten die Kurden zuerst in Mahabad (Nord-Kurdistan, Iran) die Militärkaserne und bald darauf in mehreren Städten diverse Militärstützpunkte.
Auch in Kurdistan-Iran entstand für etwa ein halbes Jahr eine Rätedemokratie. Allerdings mit bedeutendem Unterschied zu Torkmansahra.
Hier existierte eine „tolerierte“ feudale Landwirtschaft, welche hauptsächlich durch eine traditionsreiche Oppositionspartei „Kurdisch demokratische Partei Irans“ (kurz: demokratische Partei) vertreten wurde. Viehzucht und eine viel stärkere Industrie als in Torkmansahra bestimmten das wirtschaftliche Leben in Kurdistan. Das politische Bewusstsein – auch aus der langen geschichtlichen Erfahrung – war in Kurdistan stärker ausgeprägt. Teile der sunnitischen Autoritäten standen unnachgiebig auf der Seite revolutionärer Linken.
Im Gegensatz zu anderen Teilen Kurdistans außerhalb iranischer Grenzen gab es keine linke Partei im Iran, unabhängig von ihrer Haltung zur Regierungsmacht, die die Solidarität mit den Kurden nicht betonte und schätzte. Auch wenn diese Solidarität nach mancher politischen Sichtweise dann formal wurde. Diese Solidarität war gegenseitig: z.B. sandten die Kurden während des ersten Krieges in Torkmansahra ein Team von Medizinern zur Unterstützung zu den Turkmenen. Es gab kaum eine iranische linke Organisation, die nicht in Kurdistan vertreten war.
Grob eingeteilt waren drei Parteien besonders präsent: in Nord-Kurdistan die demokratische Partei, im Süden „die Partei der Arbeiter und Werktätigen Kurdistan “6 (kurz: „Koumulah“). Diese beiden Parteien waren sozusagen regional kurdisch. Die Volksfedaijen als eine der drei stärksten Organisationen in Kurdistan waren landesweit im Iran einflussreich. Die Differenzen der beiden erstgenannten Parteien und ihre bewaffneten Feindseligkeiten führten dazu, dass häufig die Volksfedaijen als Vermittler Frieden schaffen und den Austausch und die Freilassung der Geiseln ermöglichen mussten. Politisch gesehen stand die demokratische Partei, eher aus Tradition und Geschichte, der Tudeh-Partei nah (GI 395) und Koumulah den maoistischen Gruppierungen, die mit wenigen Ausnahmen an ihrer Seite bewaffnet kämpften.
Die Frage des Eigentums an Produktionsmittel und die neue Produktionsweise besaßen aus den erwähnten Gründen keine so vordergründige Rolle wie in Torkmansahra. Die Aufgabe der Räte bestand in der Selbstverwaltung im Alltagsleben und in der Organisation der großen Militär- und Verteidigungs-Anstrengungen; dies wurde meisterhaft bewältigt. Die Räte mobilisierten mehrere zehntausend Bewohner der jeweiligen Städte, organisierten ihre Aufmärsche, um sie vor einem bevorstehenden Militärangriff der Islamisten zu schützen. Mal stand die Bevölkerung einer Stadt auf den Zufahrtsstraßen, um einen Militärkonvoi an der Weiterfahrt zu hindern, mal flohen sie aus ihren Häusern, während ihre Peschmergeh (bewaffneten Einheiten aus Frauen und Männern) auf den Bergen um die Stadt sie vor Zerstörung durch Angriffe der Luftwaffe und Plünderungen der schwarzen Banden schützten.
Nur mit Hilfe der schwer ausgerüsteten Einheiten und international geächteten Waffen, wie Napalmbomben und G3-Munitionen, gelang den Islamisten die gewaltsame Annullierung der Errungenschaften der kurdischen Räte. Sie wollten das mit Verbreitung von Angst und Schrecken erreichen. Befrieden des Landes war nie das Ziel. So wurde die gesamte Bevölkerung des Dorfes  „Gharna“, wo über 90 Menschen – darunter Kinder und Frauen – massakriert wurden, ausgelöscht. Aber woanders in Kurdistan leisten die Überlebenden bis heute Widerstand, so dass kaum eine Woche ohne Auseinandersetzungen mit Polizei und Pasdaran vergeht.


1 Häufige Umschreibung der Zeit nach Zurückdrängung der Militärs vom Straßenbild.
2 Drei Jahre später wurde er wegen seiner kulturellen Aktivitäten im Namen der Mullahs exekutiert.
3 Aus einem politischen Lied, das nach der ersten militärischen Offensive des Mullah-Regimes in Turkmenistan komponiert und zum Synonym für diese Region wurde.
4 Kaviar vom Stör gehörte als lukrativer Fischfang nicht dem Fischer sondern einem staatlichen Unternehmen. Die Fischer bekommen eine geringfügige Prämie. Kaviar war und ist hauptsächlich ein Exportgut und Devisenbringer.
5 Wegen Platzmangel wird hier auf Faksimile der damals geheim gehaltenen Dokumente wie z.B. „Empfangsbestätigung“ der vier namentlich registrierten Gefangenen und „Passierscheine“, durch die das Verbrechenszenario sich rekonstruieren läßt, verzichtet.
6 Sie fusionierte später mit anderen Gruppierungen und gemeinsam bildeten sie die „Kommunistische Partei Irans“. Mehrere Abspaltungen folgten.