Gefangenenkämpfe und die fehlende Solidarität

Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen, Hamburg

Nach der Demonstration am 15. Dezember 2018 in Hamburg fand eine Gedenkveranstaltung zum Massaker 2000 in den türkischen Gefängnissen statt. Dort wurde dieser Beitrag vom „Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen – Hamburg“ gehalten.

Ende der neunziger Jahre bekam ich in Hamburg mehr Kontakt zu Revolutionär*innen aus der Türkei. Der Kampf der mutigen Gefangenen gegen die Einführung der Isolationsfolter in der Türkei beeindruckte mich. Hungerstreiks (HS) gegen diese drakonischen Maßnahmen kannte ich auch von hier. Zwei Mitglieder aus bewaffneten Gruppen, wie Holger Meins 1974 und Sigurd Debus 1981, wurden in Hungerstreiks ermordet.
Holger, Gefangener aus der RAF, starb durch systematische Unterernährung (400 Kalorien täglich) und Zwangsernährungsfolter (ZE). Sigurd, Gefangener aus einer anderen bewaffneten Gruppe, starb auch an den Folgen der ZE. Die genaue Todesursache konnte nicht mehr ermittelt werden, weil seine Krankenakte verschwand. Beide kämpften gegen die Isolation und für Zusammenlegung mit anderen politischen Gefangenen, also für Gefangenenkollektive.
Gegen die Isolationsfolter „Made in Stammheim“ wehrten sich auch die Gefangenen in der Türkei. Sie führten ihre Auseinandersetzung als Todesfasten (TFS). Diese Form war neu für mich. TFS wird im Gegensatz zum HS bis zu einem Resultat geführt, also bis die Forderungen erfüllt sind.
Schon 1999/2000 trat Ilhan Yelkuvan im Hamburger Untersuchungsgefängnis in das TFS und erkämpfte so die Aufhebung seiner Isolation. Parallel gab es auch in der BRD dazu Solidarität, wie z.B. eine Intervention in der Hamburger Bürgerschaft und die Gefangenen in der Türkei traten in den HS für Ilhan.
Ich besuchte die Gefangenen Nuri Eryküsel und Mesut Demirel, die ebenfalls isoliert waren. Erschwerend fanden die Besuche mit Trennscheibe und mit LKA-Überwachung statt.
Gleichzeitig organisierte ich mich im „Komitee gegen Isolationshaft“ (IKM) in Hamburg: „Im IKM arbeiten türkische und deutsche Genoss*innen mit, d.h wir praktizieren so auch Internationalismus. Für unsere Arbeit heißt das: Die deutschen Genoss*innen berichten von ihren Erfahrungen aus den Staatsschutzverfahren, die türkische Genoss*innen von der Repression in der Türkei und von den Kämpfen, von den großen Kollektiven, die vieles errungen haben… Wir können berichten von den Kämpfen der Isolation.“ (aus einer Rede vom IKM 1999 vor dem Knast Lübeck)
Deshalb organisierten wir als IKM Delegationen in die Türkei, um Solidarität mit den Weggesperrten und den Kämpfenden in der Türkei zu praktizieren.

19. Dezember 2000

Am 20. Oktober 2000 traten revolutionäre Gefangene aus diversen Organisationen in der Türkei in den HS, später auch in ein TFS. Am 19. Dezember 2000 begann in der Türkei eine noch nie dagewesene Offensive des Staates gegen mehrere Gefängnisse und ihre Insassen. Bei dieser Offensive, die insgesamt drei Tage andauerte, starben insgesamt 32 Menschen.
Dazu schrieben die Angehörigen der politischen Gefangenen in der BRD an die Angehörigen der politischen Gefangenen in der Türkei: „Der kriegsmäßige Überfall auf die politischen Gefangenen in der Türkei und die Ermordung so vieler Gefangener, die sich im Hungerstreik befinden, haben uns tief berührt und entsetzt. Uns allen ist seit langem bekannt, dass die türkische Regierung die Isolationshaft (…) durchsetzen will.“ (Angehörigen Info 241)
Zum Export der Folter der BRD führten sie weiter aus: „Die Isolationshaft wurde bereits in den 60er-Jahren als Mittel zum Angriff auf die physische und psychische Integrität und die Persönlichkeit der politischen und kämpfenden Gefangenen erforscht und seit den 70er-Jahren gezielt in den BRD-Knästen eingesetzt.
Weltweit ist der Knast in Stuttgart-Stammheim als Symbol für die menschenverachtende Isolationshaft bekannt. Der BRD-Staat hat diese Form von Haft und Knast in viele Länder exportiert – das ist die internationale Arbeitsteilung in der Aufstandsbekämpfung unter der Ägide Deutschlands. Stammheim ist politisch ebenso wie unmittelbar materiell Vorbild für Knäste in Spanien, in Peru, in Chile und vielen anderen Ländern.
Am 16. Mai 1990 besuchte eine Delegation des türkischen Justizministeriums den Stammheimer Knast – so direkt und unmittelbar ist die Unterstützung der BRD für das türkische Regime. So direkt und unmittelbar auch die politische Mitverantwortung der Herrschenden in diesem Land für die jüngsten Angriffe auf und den Mord an politischen Gefangenen in der Türkei.“
Auch die EU verlangte von der türkischen Regierung als Bedingung für EU-Aufnahmeverhandlung die Zerschlagung dieser Gefangenenkollektive.
Nach der Stürmung der türkischen Knäste gab es eine Zeit tagtäglicher Aktionen „im Herzen der Bestie“ auf den Straßen. Diese berechtigte Wut und Empörung konnte aber nicht lange gehalten werden. Spätestens 2002, als sich nur noch zwei Organisationen im TFS befanden, bröckelte die Solidarität merklich ab. Trotzdem gab es aber für den Kampf gegen die Einführung der Isolationsfolter in der BRD weiterhin Artikel, Veranstaltungen und Delegationen sowie einen Solidaritätshungerstreiks von dem Gefangenen Rainer Dittrich aus Lübeck.
2007 endete das TFS mit einem Erfolg, die Isolation in den Knästen der Türkei wurde teilweise zurückgedrängt. 122 Gefangene und Angehörige starben in diesem Kampf.

Kriminalisierung der Solidarität

Authentische Informationen über das TFS wurden in verschiedenen Sprachen in Europa veröffentlicht. Deshalb kritisierte die türkische Regierung diese solidarische Öffentlichkeitsarbeit und drängte auf Schließung dieser Kanäle. 2004 gab es dann daraufhin Durchsuchungen und Schließung eines Informationsbüros Özgürlük in Amsterdam.
Musa Aşoğlu war Mitarbeiter dieses Büros. Im Prozess wurde Musa vom Vertreter der BAW Oberstaatsanwalt Setton unterstellt, sie hätten die Aktivist*innen während des TFS in den Tod geschickt. Dieser Vorwurf basierte auf angeblichen Erkenntnissen des Verfassungsschutzes und des türkischen Geheimdienstes.
Festzuhalten ist, dass Solidarität für die Gefangenen und deren Kämpfe auch kriminalisiert wird durch den §129b. (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland) Zur Zeit befinden sich zwölf Gefangene deswegen im Knast. Diese Kriminalisierung soll natürlich die Solidaritätsarbeit behindern.

Probleme von praktischer Solidarität

Es gibt zarte Ansätze von gemeinsamen Agieren z.B. bei Knastkundgebungen von unterschiedlichen Spektren wie z.B. in Hamburg. Dort finden gemeinsame Aktionen monatlich vor dem Untersuchungsgefängnis statt, wo neben drei No-G20-Aktivisten auch drei Gefangene wegen §129b inhaftiert sind.
Es ist aber nach bald 20 Jahren offensichtlich, dass das Zusammenkommen zwischen einheimischen und migrantischen Linken schwierig ist. Fakt ist, dass sich zu den No-G20-Verfahren mehr Menschen verhalten als zu §129b-Verfahren.

Was sind die Ursachen?

Die deutschen und migrantischen Linken haben einen unterschiedlichen kulturellen und ideologischen Hintergrund. In den alltäglichen Auseinandersetzungen haben sie wenig miteinander zu tun und beide Zusammenhänge bleiben daher lieber unter sich, statt sich miteinander auseinanderzusetzen.
Es gibt gegenseitige Vorwürfe, wie Dogmatismus oder „Märtyererkult“ auf der einen Seite, auf der anderen Seite Anti-Kommunismus und Eurozentrismus. Fakt ist, solange nicht darüber geredet wird, klärt sich nichts. Gerade im Kampf gegen die Repression ist es wichtig, gemeinsam den Schlägen des Klassenfeinds zu begegnen. Da sollten die ideologischen Differenzen erst einmal sekundär sein.
Doch wie sind die Differenzen zu klären? Aus eigener Erfahrung weiß ich, das Klärung, wenn sie gewollt ist, nur durch gemeinsames Reden möglich ist. Der Schlüssel zum Zusammenkommen ist also die Kommunikation, die dann die Basis für eine gemeinsame Praxis sein kann.
Es geht in den Auseinandersetzungen natürlich nicht nur um die „große Politik“, sondern es geht um die Vermittlung der Vorstellungen und Werte, die das gesamte Leben ausmachen: Arbeit, Wohnen, Beziehungen, Kultur …
Die Bullen und Geheimdienste beobachten genau, ob es zu wechselseitigen Lernprozessen kommt. 2008 warnte der Verfassungsschutz Baden-Würtemberg „vor einer Zusammenarbeit von migrantischen und einheimischen Linken!“ Kurz danach erfolgten die Festnahmen von Cengiz Oban und Nurhan Erdem, die wegen §129b jahrelang im Knast verschwanden.
Intensivieren wir also die gemeinsame Arbeit zu Gefangenen. Sehen wir das als Chance zum Zusammenkommen. Nebenbei bemerkt, es geht dabei nicht um deren Freiheit, sondern auch um die Unsere! Jeder Erfolg ist immer auch ein Sieg für uns alle über die stärkste europäische Macht in Europa, die BRD und der faschistischen Regierung in der Türkei. Wir machen dabei die Erfahrung, die-se Regierungen sind nicht allmächtig, also verwundbar.

Papiertiger leben nicht ewig!