Solikomitee für Hungerstreikende Akademiker Bielefeld
Hintergrund (gi berichtete in Ausgabe 410) Die Literaturwissenschaftlerin Nuriye Gülmen und der Grundschullehrer Semih Özakça begannen im November 2016 in Ankara, in der viel besuchten Fußgängerzone, einen Sitz-Protest mit folgenden Forderungen an die AKP-Regierung:
- Aufhebung des im Juli 2016 verhängten Ausnahmezustands.
- Stopp aller Massenentlassungen durch Notstandsdekrete und Wiedereinstellung der linken und demokratischen Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst.
- Ihre eigene Wiedereinstellung als Lehrkräfte.
Ihr Protest war in Form und Ausmaß neu und ermutigte weitere Entlassene in anderen Städten, für ihre Forderungen auf die Straße zu gehen. Somit wuchs die Anzahl der Protestler, aber auch die Brutalität und Gewalt des Staates. Denn diese Menschen hatten keine Angst, die Realität in der Türkei, nämlich den offenen Faschismus, in der ganzen Welt bekannt zu machen. Einige Auszüge aus dem neuesten Bericht des türkischen Menschenrechtsvereins und der Stiftung für Menschenrechte belegen diese:
In den ersten elf Monaten des Jahres 2017 sind
1. 36 Menschen durch gezielte Schüsse auf der Straße seitens der Sicherheitskräfte hingerichtet und 12 verletzt worden;
2. In bewaffneten Auseinandersetzungen 695 Menschen getötet und 310 verletzt worden;
3. 23 Menschen – 6 davon Kinder – durch Militärfahrzeuge tödlich überfahren und 25 Menschen verletzt worden.
Klassenjustiz
Bis jetzt wurden sechs Gerichtsverhandlungen gegen die protestierenden und hungerstreikenden Akademiker abgehalten. Gegen Nuriye Gülmen und Semih Özakça lautete die Anklage Unterstützung einer Terrororganisation. Nachträglich wurde gegen Nuriye im Oktober ein weiteres Verfahren eröffnet, diesmal wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Die „Beweise“ für diese Behauptungen lieferten drei Zeugen, die angeblich Nuriye und Semih als Mitglieder der Terrororganisation kennengelernt hatten. Die Anklageschrift beinhaltete Beschuldigungen und als Beweise wurden ihre Teilnahmen an Beerdigungs-Kundgebungen für die Getöteten bei den Gezi-Protesten, Anreise nach Ankara als Prozessbeobachter bei Gerichtsverhandlungen und das Verteilen der Aufrufe dazu, Aufführen von Theaterstücken, vorgelegt. Einer der drei Zeugen behauptete sogar, dass Nuriye eine Bombe bei der Beerdigungskundgebung gelegt hätte, was seine Glaubwürdigkeit damit zunichte machte.
Bei der fünften Gerichtsverhandlung wurde Semih Özakça gegen Auflagen, wöchentliche Meldung beim Präsidium und Hausarrest, aus der Haft entlassen. Nuriye Gülmen wurde ihre Teilnahme an Prozessen verwehrt, weshalb sie ihre Verteidigung per Liveübertragung aus dem Knast abgelehnt hat. In der letzten Gerichtsverhandlung am 1. Dezember 2017 gab sie eine Erklärung ab und betonte, sie möchte persönlich beim Prozess anwesend sein und ihre Verteidigung in aller Öffentlichkeit tun. Bei dem Prozess wurde Semih Özakça von allen Beschuldigungen freigesprochen und alle Auflagen wurden aufgehoben. Für Nuriye Gülmen entschied das Gericht, eine Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten zu geben und sie aus der Haft zu entlassen. Am 268. Tag ihres Hungerstreiks kam Nuriye Gülmen aus ihrer Zelle, wo sie monatelang unter Isolationsfolter und der Gefahr von Zwangsernährung Widerstand geleistet hatte, frei. Völlig abgemagert und dennoch lächelnd und glücklich, wieder unter Freunden zu sein.
Widerstand mit allen Mitteln
Auch an der Yüksel-Straße, wo der Protest vor über einem Jahr begonnen hatte, geht der Widerstand weiter, zweimal täglich gehen die Unterstützer auf die Straße, um die Öffentlichkeit mit einem Aufruf und Presse-Erklärungen zu informieren. Sie werden unter Folter inhaftiert, nicht wenigen brechen die Sondereinsatzkräfte die Knochen. Eine Lehrerin, die von Beginn an ihre Arbeit zurückforderte, ist seit über zwei Monaten auf der Rechtsgrundlage des Ausnahmezustandes inhaftiert. Nicht vergessen die 16 Anwälte, durch deren Inhaftierung die Protestierenden ohne rechtlichen Beistand sind. Durch weitere unrechtmäßige Regelung soll der Widerstand von Nuriye Gülmen isoliert werden: kurz nach der Entlassung hat der Gouverneur ein Medienverbot für Nuriye verhängt, in dem er das Wohngebiet von ihr durch Polizisten umzingeln ließ und die Presse daran hinderte, Interviews zu führen. Auch hier wieder ist die Rechtsgrundlage der verhängte Ausnahmezustand. Trotz allen Repressalien und Staatsgewalt sind Nuriye Gülmen und Semih Özakça fest entschlossen, diesen Widerstand weiterzuführen, mit allen Konsequenzen, dies äußern sie immer wieder und fordern ihre Wiedereinstellung als Lehrkräfte.
Nuriye und Semih sind seit 278 Tagen im Hungerstreik! Andere Lehrkräfte, Akademiker und Unterstützer sind auch im unbefristeten Hungerstreik: Esra Özakça 203 Tage, Mehmet Güvel 164Tage, Feridun Osmanağaoğlu 122Tage, Mahir Kılıç 29 Tage (Stand 11. Dezember 2017)