Notstandsgesetze vs. Grup Yorum

Türkei: Razzien und Festnahmen begleiten die Veröffentlichung des neuen Grup Yorum Albums „İlle Kavga”

Redaktion

In einer Mitteilung vom 22. September 2017 heißt es: „Nach zweijähriger Pause erleben wir die Spannung, die uns unser neues Album bereitet. Eine Seite von uns ist glücklich – die andere betrübt. Denn sechs Grup Yorum-Mitglieder sind eingesperrt. Betül Varan, ein weiteres Gruppenmitglied, ist seit einer Woche in Gewahrsam. Wir möchten kundtun, dass wir dieses Album an erster Stelle unseren Freundinnen und Freunden widmen, die sich in Haft und in Gewahrsam befinden.“
Mit diesen Worten stellte das revolutionäre Musikkollektiv Grup Yorum ihr neues Album „İlle Kavga” („Unbedingt Kampf“) vor und hob damit den staatlichen Terror hervor, gegen den das Kollektiv seit Ausrufung der Notstandsgesetze vergangenes Jahr vermehrt zu kämpfen hat. Nicht dass das Kollektiv in ihrer 32-jährigen Geschichte jemals von Repression verschont geblieben wäre, aber allein in diesem Jahr war das Istanbuler Kulturzentrum İdil, in dem das Kollektiv arbeitet, bereits zweimal polizeilich gestürmt und verwüstet worden. Bei diesen Angriffen gegen das Kollektiv waren im Laufe der letzten Monate etliche Gruppenmitglieder inhaftiert worden, von denen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des neuen Albums Sultan Gökçek, Dilan Poyraz, Fırat Kıl, Helin Bölek, Dilan Ekin und Bergün Varan (Bergün Varan wurde am 26. September 2017 freigelassen) im Knast waren. Von eben diesen Gefangenen ist im obigen Zitat die Rede.
Um das neue Album vorzustellen, lud das Kollektiv anschließend ihre Hörerinnen und Hörer zu einem Autogrammtag am 24. September 2017 ins Kulturzentrum İdil ein. Während dieser Veranstaltung stürmten Polizisten erneut das Zentrum, indem sie die Tür aufbrachen, die Räume verwüsteten, die Wände mit Beleidigungen beschmierten und gewaltsam die FOSEM-MitarbeiterInnen (Foto- und Kino-ArbeiterInnen) Meral Yıldırım Gökoğlu und Ali Sinan Çağlar, die Grup Yorum-Mitglieder Bahar Kurt und Özgür Zafer Gültekin, Grup Yorum-Chorsängerin Meral Hır, die İdil-Mitarbeiterinnen Ayfer Rüzgâr und Dilek Kaya sowie Aygül Birgül, Mutter des inhaftierten Grup Yorum-Mitglieds Helin Bölek festnahmen. Es war die dritte Razzia in diesem Jahr.
FOSEM veröffentlichte nach der Razzia eine Erklärung, in der sie folgendes hervorhob: „Mit den Festnahmen, Verhaftungen und Diffamierungskampagnen (in schriftlichen sowie visuellen Medien erscheinenden Nachrichten) wird beabsichtigt, oppositionelle Einrichtungen und Personen zum Schweigen zu bringen und somit allen voran die Solidarisierung mit Nuriye und Semih (im Hungerstreik in Ankara, weil sie aufgrund der Notstandsgesetze ihre Arbeit verloren hatten; red.) zu unterbinden sowie unsere Bevölkerung einzuschüchtern.“ Erst vor wenigen Tagen hatte Grup Yorum ein Video veröffentlicht, in dem sie ein von Semih Özakça im Knast geschriebenes und komponiertes Lied einspielte. Die Audioaufnahme hierfür hatte seine Frau Esra Özakça an Grup Yorum übermittelt.
Wie gewohnt wurde „İlle Kavga” bei der Musikfirma Kalan veröffentlicht und besteht aus 19 Liedern, von denen einige bereits vor Erscheinen des Albums publik waren. Dazu gehört u.a. das Lied „Soma İçin” (Für Soma), welches nur wenige Tage nach einem Minenunfall, welches sich am 13. Mai 2014 im ägäischen Soma ereignet hatte, veröffentlicht worden war. Dabei waren 301 Arbeiter wegen mangelhaften Sicherheitsbedingungen in der Grube ums Leben gekommen. Ein anderes Lied, das bereits vorher veröffentlicht worden war, ist „Uyan Berkin“ (Wach auf Berkin). In diesem Lied geht es um Berkin Elvan, der während des Gezi-Aufstands 2013 von der Polizei mit einer Tränengasgranate angeschossen worden war. Er befand sich anschließend 269 Tage im Koma und starb am 11. März 2014 im Alter von nur 15 Jahren. Die übrigen Lieder befassen sich u.a. mit der Straflosigkeit für staatliche Mörder sowie ihre Befehlshaber in „Bir Ceza İstiyorum“ (Ich fordere eine Strafe), mit Dialektik und Materialismus(!) in „Doğru Düşün ve Çöz“ (Denke richtig und löse es) oder mit Kiez-Organisierung und Widerstand in „Bu Mahalle Bizim“ (Dies ist unser Viertel). Es ist ein musikalisch vielseitiges Album, das in gewohnter Yorum-Manier bestes Beispiel revolutionärer Kunst ist.
Die Veröffentlichung des neuen Albums hat gezeigt, dass es Grup Yorum trotz massivster Repression und Hinderungsversuchen durch das AKP-Regime schafft, das Kollektiv auf den Beinen zu halten, neue Lieder und Alben zu erarbeiten sowie organisatorisch intakt und politisch aktiv zu bleiben. Aber das sei laut Grup Yorum nicht genug. In ihrem Ankündigungstext vom 22. September schreiben sie nämlich auch: „Noch schönere Alben und Lieder werden wir machen, indem wir uns die Kritik der Bevölkerung einholen. (…) Natürlich werden wir nicht warten, weil „İlle Kavga” nun erschienen ist. Unsere Vorbereitungen für zwei weitere Alben setzen wir fort. Unser Ziel ist es, diese beiden Alben in den kommenden Monaten zu publizieren. (…) Eines dieser Alben wird die Fortsetzung der „Lehrer“-Serie sein, die wir mit Liedern von Ruhi Su begonnen hatten. Das andere besteht aus Liedern, die wir in den vergangenen Monaten erarbeitet hatten und Euch größtenteils unbekannt sein dürften.“