„Direnmek Üretmektir“

Ein Interview mit Grup Yorum-Mitglied İhsan Cibelik über Kunst, Kreativität und Kommunikation unter Bedingungen der Gefangenschaft in der Türkei

Wir haben in unseren letzten Ausgaben immer wieder das revolutionäre Musikkollektiv Grup Yorum zum Thema gehabt. Grund hierfür bildete die ansteigende Repression gegen die Band sowie gegen ihr Istanbuler Kulturzentrum İdil. Wir hatten nun die Möglichkeit, mit dem Bandmitglied İhsan Cibelik ein Gespräch zu führen, wobei wir uns anlässlich unseres Schwerpunktes über Kunst, kreatives Schaffen und Kommunikation unter Bedingungen der Gefangenschaft unterhalten haben.

Redaktion

Redaktion: Merhaba İhsan. Staatliche Repression und Knast verfolgen immer bestimmte Ziele. Im Falle von politischer Verfolgung dienen diese Instrumente in erster Linie dazu, die Betroffenen einzuschüchtern, zu bestrafen, von der Außenwelt zu isolieren und die politische Identität zu vernichten. Wie sehen eure Erfahrungen mit Knast aus? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, als Grup Yorum-Mitglied im Knast zu landen?

İhsan Cibelik: Merhaba Freunde. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch. Grup Yorum ist nicht einfach eine Band sondern auch eine revolutionäre Musikschule und hatte seit ihrer Gründung 1985 dutzende Mitglieder, von denen etwa die Hälfte im Knast war. Mit zehneinhalb Jahren bin ich das Mitglied mit der längsten Knasterfahrung. Nach mir waren meine Kollegen Ali Aracı und Muharrem Cengiz vermutlich am längsten im Knast eingesperrt. In letzter Zeit sind die Bandmitglieder İnan Altın und Selma Altın immer wieder mit Knast konfrontiert und aktuell befinden sich Sultan Gökçek, Dilan Poyraz, Fırat Kıl, Helin Bölek, Dilan Ekin und Bergün Varan1 hinter Gittern. Eigentlich befindet sich ständig jemand von uns im Knast.

Redaktion: Wir wollten mit dir über das Thema Kunst, Kreativität und Kommunikation unter Bedingungen der Gefangenschaft sprechen. Häufig wird davon erzählt, dass viele eurer Lieder im Knast entstanden sind. Setzt ihr euer künstlerisches Schaffen im Knast fort?

İhsan Cibelik: Im Grunde sind alle politischen Gefangenen kreativ. Gefangenschaft zwingt zur Kreativität. Grup Yorum fördert diese kreative Seite der politischen Gefangenen. Etwa ein Zehntel unserer Lieder ist im Knast entstanden. Einige davon wurden von politischen Gefangenen geschrieben und uns zugeschickt. Einige andere wurden von politischen Gefangenen in Zusammenarbeit mit uns geschrieben. „Direnişçilerin Cevabı” (Die Antwort der Widerständigen; red.), „Güle Sevdalı” (Verliebt in die Rose; red.), “Mitralyöz“ (Mitrailleuse; red.) und „Vasiyet“ (Testament; red.) sind einige wenige Beispiele. „Mitralyöz“ beispielsweise ist eine Widmung an Ayçe İdil Erkmen, die 1996 während des Todesfastens2 im Çanakkale-Knast fiel. Nach ihr wurde unser Kulturzentrum in İstanbul benannt. Das Lied „Vasiyet“ hingegen besteht inhaltlich aus dem Testament von Günay Öğrener3. Sie befand sich damals im Todesfasten und verbrannte sich im Laufe des Widerstands aus Protest gegen die Zwangsernährung. Eben jenes Testament verfasste Günay Öğrener vor ihrem Tod, worin sie u.a. darum bat, dass Haarsträhnen von ihr ins Schwarze Meer gestreut werden und Mimosen auf ihr Grab gepflanzt werden. Darin erklärte sie auch, dass ihr Körper zwar gefangen, ihre Gedanken jedoch frei seien. Ihr Testament war eine schöne Botschaft und das Lied entstand in einem F-Typ-Knast.

Redaktion: Wie sollen wir uns das genau vorstellen? Wie erarbeiten gefangene Musikerinnen und Musiker Lieder unter solch schwierigen Bedingungen?

İhsan Cibelik: Es ist schwierig und erfordert große Anstrengungen. Noch größer sind die Anstrengungen, unter solchen Bedingungen kollektiv zu arbeiten. Ich z.B. habe während meiner Gefangenschaft viele Instrumente gebaut. Damals gelangten nämlich Instrumente nicht in den Knast. Zum Komponieren von Liedern habe ich meine Kaval (anatolisches Blasinstrument; red.) zunächst aus Zeitungen hergestellt. Sie hielt der durch das Hineinblasen entstehenden Feuchtigkeit aber nicht stand und deformierte sehr schnell. Dann fanden wir heraus, dass wir Tetra Pak anstatt Zeitung benutzen können, da das Material wasserabweisend ist. Das Tetra Pak rollten wir zu einem Rohr und verschweißten die Naht mit Plastik. Diese Kaval war leider sehr instabil, aber sie erfüllte ihren Zweck. Wenn die Gefängniswärter meine unter großem Aufwand hergestellte Kaval kaputtmachten, dann bauten wir sofort mehrere neue Kavals und hängten diese demonstrativ an unsere Zellenwand, um zu zeigen, dass wir uns nicht beugten. Sie ließen meine Kavals dann irgendwann in Ruhe.
Einige Freunde wandten für den Bau von Kavals eine andere Methode an. Sie hatten eine hübsche Technik entwickelt. Sie verwendeten Hochglanzpapier, welches sie aus Zeitschriften ausschnitten. Dazu wurden mehrere Schichten dieses Papiers um einen runden Stab gewickelt und an der Naht mit Reis zusammengeklebt. Um Reis als Klebstoff nutzen zu können, wird der Reis zunächst gewaschen, damit er sich seiner Öle entledigt. Es kann auch ein wenig Zucker beigefügt werden. Unter der Sonne trocknet er dann zu einem stabilen Klebstoff. Anschließend wird er zerstampft und mit einem Tuch oder einem ähnlichem Stoff gepresst und gefiltert. Damit werden dann etwa zehn Papierschichten zusammengeklebt, was dann eine Dicke von rund eineinhalb bis zwei Millimetern ergibt. Das wars. So entstand ein Kaval-Rohr.
Schließlich entdeckte ich, dass ich die Plastikbeine der anstaltseigenen Bade-Hocker zum Bau einer Kaval benutzen konnte. Sie waren rund und ließen sich abschrauben. Dazu benötigte ich zwei Beine, da sie etwas zu kurz waren. Diese verband ich mit Hilfe einer Tabletten-Dose, an die ich ebenfalls im Knast ran kam. Das passte perfekt und funktionierte prima. Ich baute mir dann noch ein Mundstück und musste nur noch kleine Löcher anbringen, um die Töne erzeugen zu können. Ich spielte am Fenstergitter für die Gefangenen, die der Musik lauschten. Die Lieder wurden den politischen Gefangenen zugänglich gemacht. Kritik und Meinungen wurden eingeholt und durch diese kollektive Arbeitsweise entstand dann manchmal ein künstlerisch sehr wertvolles Erzeugnis.

Redaktion: Eine kollektive Arbeitsweise erfordert eine gut funktionierende Kommunikation. Unter Bedingungen der Gefangenschaft wird dies aber erschwert. Kannst du uns was die Kommunikation in Knästen der Türkei erzählen?

İhsan Cibelik: Vor den F-Typen hat es in der Geschichte kreative Kommunikationswege der Gefangenen gegeben. Hierfür könnte ich verschiedenste Beispiele nennen. Eines davon ist das alphabetische Klopfen an die Wände. Diese Methode besteht aus stärkeren, einzelnen Klopftönen sowie aus schwächeren, rasch aufeinander folgenden Klopftönen. Hierbei werden die jeweiligen Buchstaben des Alphabets kodiert. Ein starkes Klopfen steht für eine Zehn und ein schwaches Klopfen für eine Eins. Wenn also z.B. der 14. Buchstabe des Alphabets gemeint ist, dann wird einmal stark und anschließend viermal schwach geklopft. Das hört sich zwar sehr schwierig und langwierig an, aber unglaublicherweise entwickelt sich diese Methode in kurzer Zeit in einem sehr schnellen und praktischen Kommunikationsweg. Wir waren wirklich in der Lage, sehr schnell und lückenlos miteinander zu kommunizieren.
Eine andere Methode ist das Verschicken von Notizen. Dabei werden kleine Zettel, deren Inhalt z.B. durch bolschewistische Kodierung verschlüsselt wurde, versteckt in einem Kleidungsstück, per Wärter oder auf anderem Wege an die gefangenen Adressaten verschickt. Das war in den F-Typen natürlich nicht mehr möglich.
Es gibt noch eine weitere Methode, welche die Gefangenen in den 1980ern im Istanbuler Metris-Gefängnis entwickelt hatten und die mir sogar einmal vorgeführt wurde. Hierbei wurden die Buchstaben mit dem Zeigefinder in die Luft geschrieben. Diese Methode wurde von den Gefangenen entwickelt, weil sie aus Repressionsgründen nicht laut miteinander kommunizieren konnten und die Kommunikation unter den Gefangenen zu harten Strafen führte. Deswegen kommunizierten die Gefangenen anfangs mit weiten Armbewegungen von Fenster zu Fenster, wobei mit der Hand Buchstaben in die Luft geschrieben wurden. Diese Methode entwickelte sich mit der Zeit weiter, so dass sich Gefangene, die sich z.B. auf den Gerichtskorridoren begegneten, in wenigen Augenblicken per Zeigefinger austauschen konnten. Dabei schauten sich die Gefangenen gegenseitig auf die Zeigefinger, die mit kleinen Bewegungen Buchstaben, Worte und Sätze in die Luft schrieben. Bei dieser Methode wird sehr schnell geschrieben und sehr schnell gelesen – von der Schnelligkeit fast vergleichbar mit einem Telefongespräch. Mir wurde das draußen mal gezeigt. Dabei haben zwei Leute auf diese Weise miteinander kommuniziert. Weil wir das nicht glauben konnten, haben wir diese Leute unabhängig voneinander gefragt, was sie geschrieben bzw. verstanden hatten. Und es stimmte überein. Sie kommunizierten tatsächlich miteinander. Diese Kommunikation setzt aber voraus, dass sich die Gefangenen sehen können. Und das ging in den F-Typen nicht.

Redaktion: Die Kommunikation in Isolationsgefängnissen wie den F-Typen stellen wir uns schwierig vor. Können die Gefangenen dort kommunizieren? Wenn ja, wie läuft das ab?

İhsan Cibelik: Die F-Typen bezwecken in erster Linie kollektives und organisiertes Verhalten der Gefangenen zu beseitigen, sie zu vereinzeln und in die Ausweglosigkeit zu treiben, damit sie sich dem Willen der Knastleitung unterordnen. Dazu gehört, dass die Kommunikation unter den revolutionären Gefangenen unterbunden werden soll.
Aber wir lernten in den F-Typen zu kommunizieren. Eines Tages fiel ein Ding während des Hofgangs mit einem lauten Geräusch in unseren Hof. Es war ein Stück Brot, das sich in einer Zitronenschale befand. Weil wir uns im Hungerstreik befanden, dachten wir dass jemand gerade ein Komplott gegen uns schmiedet. Anschließend haben wir gesehen, dass sich eine schriftliche Notiz darin befand. Auf dem Zettel stand: „Merhaba. Willkommen. Wie geht es euch? Wir befinden uns in der Zelle auf der anderen Seite der Mauer hinter euch. Wir haben euch diese Nachricht über die Mauer geworfen.“ Wir haben auf demselben Wege geantwortet und darum gebeten, uns den Erhalt zu bestätigen. Die Bestätigung kam dann auch.
Diese in Brot und Zitronenschale versteckte Notiz hatte bei uns einen Aha-Effekt ausgelöst. Uns war klar geworden, dass wir auf diesem Wege ausnahmslos jeden im Knast erreichen konnten. Innerhalb einer Woche hielten wir den Grundriss des riesigen Knastes inklusive aller Zellen mit ihren Nummernbezeichnungen und der Form sowie der Beschaffenheit der Höfe in den Händen. Dies entwickelte sich binnen kürzester Zeit zu einem der grundlegendsten Mittel kollektiven Verhaltens. Diesen Kommunikationsweg nannten wir „Posta“ (Post; red.) und die Sendungen nannten wir „Top“ (Ball; red.). Die größeren Sendungen nannten wir Araba (Auto; red.). Innerhalb des Knastes verschickten wir von da an alles nur noch per Top und Araba. Wir bauten eine Organisierung auf, indem sich die Gefangenen untereinander fast täglich schrieben. Tageszeitungen wurden allen zugänglich gemacht, indem die Gefangenen, die ihre eigenen Zeitungen bereits gelesen hatten, diese per Top weiterschickten und auf demselben Weg andere Zeitungen erhielten. Sollten Artikel von besonderem Interesse für bestimmte Gefangene sein, so wurden diese Artikel mit der jeweiligen Zellenbezeichnung markiert, damit die Artikel am Ende des Tages die besagten Gefangenen erreichen konnten. Das geschah dann mit der letzten Posta des Tages, denn es gab in der Regel eine Früh-Posta, eine Tages-Posta und eine Abend-Posta.
Dieser Kommunikationsweg ließ uns viele wichtige Projekte ins Leben rufen. Dank der Posta-Methode haben wir in den F-Typen ein sehr reichhaltiges Leben aufgebaut. Es ermöglichte uns beispielsweise, Programme kollektiv zu entwickeln. So riefen wir Kultur-Komitees ins Leben, um gemeinsam Veranstaltungen und Aktivitäten zu organisieren. Diese Komitees holten rechtzeitig Vorschläge von den Gefangenen ein, welche in der Regel über ein Repertoire an revolutionären Gedichten, Liedern und Märschen verfügten, die sie sich aus Publikationen und Zeitungen zusammenstellten, da CDs usw. den Gefangenen nicht ausgehändigt wurden. Das Radio wurde sowieso von der Knastleitung kontrolliert, welche bei Bedarf die Radioknöpfe in den Zellen aktivieren bzw. deaktivieren konnte und diese Möglichkeit manchmal als Foltermittel einsetzte, indem sie die Gefangenen unentwegt mit lauter Musik beschallte oder die Gefangenen dadurch bei der Durchführung von kulturellen Aktivitäten durch das Spielen von reaktionären Märschen störte. Wir leisteten dagegen einen starken Widerstand und setzten unsere Programme fort. Diese setzten sich aus einer Einleitungsrede, Gedichten, Liedern, Märschen, usw. zusammen. So wurde z.B. im Vorfeld ein Programm-Entwurf angefertigt, welche Zelle welches Gedicht vorträgt, welche Zelle ein Lied anstimmt oder welche Zelle eine Rede hält. Die Aktivität selbst lief so ab, dass die Gefangenen ihre Beiträge laut aus den Zellenfenstern heraus vortrugen und jeder Beitrag mit einem Applaus endete. Es war nicht immer möglich, alles gut zu verstehen, aber es funktionierte reibungslos.
Aber auch Parolen dienten der Kommunikation. Wenn beispielsweise die Parole „Die Menschenwürde wird die Folter besiegen“ gerufen wurde, dann wussten wir sofort, dass mit großer Wahrscheinlichkeit ein Angriff oder eine Zellenrazzia stattfand oder dass jemand zwangsverlegt wurde. Unmittelbar begannen die übrigen Gefangenen ihren Protest, indem sie Parolen in den Höfen und an den Zellenfenstern riefen oder laut gegen die Zellentüren schlugen.

Redaktion: Das heißt, dass der Isolation in den F-Typen mit diesen Mitteln etwas entgegengesetzt wurde. Sind die „Tutsak Dergiler“4 (Gefangenenzeitschriften; red.) durch die Posta-Methode entstanden?

İhsan Cibelik: Ja, die Gefangenenzeitschriften sind eines dieser Projekte. Wir wollten Publikationen machen. Wir hatten ja Zugang zu Tageszeitungen und erhielten somit täglich Informationen. Wir wollten eine richtige Zeitschrift machen, die all diese Informationen politisch einordnet. Per Top diskutierten wir z.B. kollektiv darüber, ob es eine monatliche Periodika sein soll, wie die Zeitschrift heißen soll usw. In fast jedem Knast hatten wir bald eine eigene, monatlich erscheinende politische Zeitschrift. Ich kann mich gut an eine politische Zeitschrift mit dem Namen „İleri” (Vorwärts; red.) erinnern.
Wir hatten auch begonnen, uns Karikaturzeitschriften zuzulegen, von denen wir uns inspirieren ließen und zeichnen lernten. Anfangs zeichneten wir die Karikaturen ab, die uns stilistisch gefielen. Dann versuchten wir uns langsam an eigenen Zeichnungen. Wir ließen Karikaturbücher kommen, um das zu lernen. Einige von uns haben ihren eigenen Stil entwickelt und sind gute Karikaturisten geworden. Es handelte sich dabei um humoristische und satirische Karikaturen.
Im Sincan F-Typ-Knast in Ankara, wo ich inhaftiert war, machten wir die Zeitschrift “Vız Gelir” (Kann uns nichts anhaben; red.)5. Das setzten wir in kollektiver Arbeit um. Eine Knastzelle bildete die Redaktion, welche Mutfak (Küche; red.) genannt wurde. In der Mutfak kam alles zusammen und dort wurden die Entscheidungen gefällt, das Layout gemacht usw. Zunächst wurden die Themen und die Artikel festgelegt. Dafür bat die Mutfak die Gefangenen um Vorschläge und holte diese ein. Bei den Vorschlägen handelte es ich zumeist um aktuelle, politische Themen. Die Zeitschrift enthielt ein Gruß- bzw. Einleitungswort sowie die einzelnen Themen. Zudem waren auch Comicstrips in der Zeitschrift enthalten, die teilweise als Serie regelmäßig erschienen. Eine davon war „Taklacı Mahmut”6, an die ich mich gut erinnere. In diesem Comic ist Taklacı Mahmut eine Taube, die gemeinsam mit anderen Tauben viel umherreist und die Gefangenen vom Himmel beobachtet. Einige der Tauben unterstützen die Gefangenen, während andere gegen die Gefangenen sind. Taklacı Mahmut aber schlägt Saltos zwischen diesen Lagern und ist mal für und mal gegen die Gefangenen. Und einige der Tauben lieben die Revolutionäre und nehmen sie zum Vorbild. Aus dem Blickwinkel der Tauben stellten wir uns, unsere Situation und die einzelnen Haltungen im Knast dar. Dieser Strip bestand je nach Thema aus drei bis zehn Panels7, glaube ich. Auch unsere Texte waren humoristisch und satirisch.
Die Erarbeitung der Texte sowie die Erstellung der Zeitschrift war aufwendig. Die Gefangenen, die Artikel anfertigten, mussten in ihrer Zelle zunächst einen Entwurf anfertigen und diesen dann nochmal vorsichtig sauber abschreiben. Die sauber verfasste Kopie wurde dann per Posta über die Mauern an die Mutfak geschickt. Dort wurde der Artikel von der Redaktion bearbeitet und anschließend wieder an den Verfasser zurückgeschickt. Der Verfasser musste die redaktionellen Anmerkungen einarbeiten und wieder an die Mutfak zurückschicken. Der Artikel war damit fertig. Schließlich mussten die technischen Arbeiten getan werden d.h. der Artikel musste im Rahmen des Layoutprozesses in die Zeitschrift eingearbeitet werden.
Das Layout fand in der Mutfak statt, was aus dem Einarbeiten der Artikel, der Gestaltung der Titelseite und des Logos bestand. Das Logo und die blanke Titelseite wurden dann dem Gefangenen geschickt, der zeichnerisch in der Lage war, die Vorstellungen und Vorschläge umzusetzen. Dieser fertigte zwei Fassungen an und schickte eine davon an die Mutfak.
Was unter normalen Umständen schnell und simpel mit Photoshop und Indesign erledigt werden kann, mussten wir in geduldiger und unermüdlicher Arbeit mit den wenigen uns zur Verfügung stehenden Mitteln machen.
Die gelayoutete Fassung der Zeitschrift schickten wir unterschiedlichen Gefangenen, die imstande waren, Kopien der Zeitschrift anzufertigen. Diese Kopien wurden wieder an die Mutfak geschickt, wo fünf Exemplare der Zeitschrift mit Nadel und Faden gebunden wurden. Diese Exemplare wurden dann sehr vorsichtig in Plastikflaschen gepackt. Diese Zeitschriften wurden dann als Araba verpackt per Posta bis in die entlegensten Winkel des Knastes verteilt.
Manchmal blieben die Zeitschriften am Dach hängen und wir konnten sie dann manchmal auch nicht mehr retten, indem wir etwas anderes hochwarfen, um sie zurückzuholen. Es tat weh, wenn das passierte. Aber wir gaben nicht auf und fertigten mit derselben Methode ein weiteres Zeitschriftenexemplar an, um den Verlust zu ersetzen.
Es war mühevoll und im wahrsten Sinne des Wortes eine gewaltige Anstrengung. Aber wir arbeiteten mit Hingebung und Liebe und schafften es. Wir haben es immer geschafft.

Redaktion: Es ist interessant zu hören, wie kreativ die Gefangenen sind. Das heißt, dass nicht vorhandene Möglichkeiten mit den zur Verfügung stehenden Mitteln geschaffen wurden. Gibt es hierfür weitere Beispiele?

İhsan Cibelik: Natürlich. Von draußen werden den Gefangenen keine Mittel geboten. Also wird darüber nachgedacht, was an Mittel und Material im Knast vorhanden ist und genutzt werden kann. Musikinstrumente und Zeitschriften sind nur zwei von vielen Beispielen dieser Kreativität. Es gibt dutzende weitere Beispiele.
Ich habe euch von den Gefangenenzeitschriften erzählt. Diese mussten wir irgendwie stabil heften. Also nähten wir sie, denn es gab Nadel und Faden. Wenn es Nadel und Faden gibt, dann kann alles hergestellt werden, was damit eben hergestellt werden kann. Im Gefängnis arbeitest du mit dem, was du hast.
Wir haben sehr schöne Sachen gemacht. Z.B. stellten wir Rahmen für Fotos her, die uns von draußen geschickt wurden. Ein anderes Beispiel ist buntes Papier. Dies wurde uns in der Kantine nämlich nicht verkauft. Wir erhielten nur weißes Papier und Stifte mit schwarzer und blauer Tinte. Aber wir wollten nicht nur weißes Papier für unsere Briefe und Postkarten benutzen. Also mussten wir das Papier irgendwie färben, denn wir brauchten andere Farben. Die Knastleitung versucht nämlich, uns von Farben zu isolieren. Die Farben im Knast sind vorwiegend weiß oder hellblau. Komplett. Andere Farben siehst du nicht. Nach vielen Jahren macht es sowohl deine Gedanken als auch deinen Verstand und deine optische Wahrnehmung farbenblind. In dem Buch „Der stille Tod“8 wird das sehr gut geschildert. Besonders gut kommt das dort in den Interviews mit den Gefangenen aus der RAF hinsichtlich ihrer Haftbedingungen zur Geltung. Um die Menschen sowohl vom Denken als auch von der Wahrnehmung zu entfremden, sie zu vereinheitlichen und sie langfristig in einen ausgehöhlten psychischen Zustand zu versetzen, wird alles auf eine Farbe reduziert. Außerdem kannst du nicht mehr in die Ferne blicken. Du bist permanent in der Zelle eingesperrt und dort beträgt die maximale Blickdistanz drei bis vier Meter. Im Hof kannst du nur in den Himmel blicken, wo du vielleicht manchmal Vögel oder Wolken siehst. Den Himmel siehst du aufgrund der Knastmauern nur durch ein kleines Viereck. Wir hatten Gedichte geschrieben, in denen es heißt: „Sie versuchen, den riesigen Himmel in ein Viereck zu pressen.“ Unter diesen Bedingungen der Farblosigkeit versuchten wir Farben herzustellen. In der Kantine konnten wir beispielsweise Gemüse kaufen. Um die Farbe Lila herzustellen besorgten wir uns Rosenkohl, das wir etwas zerstampften und in heißes Wasser gaben. Das Wasser, dass sich dadurch lila färbte, gaben wir in eine Schüssel und legten das weiße Papier hinein. Das Papier saugte dann die Farbe auf. Anschließend legten wir es zum Trocknen in die Sonne oder auf die Heizung. Das Papier roch dann zwar ein wenig aber immerhin hatten wir lila Papier. Wir wandten dieselbe Methode mit Zwiebelschalen an, um Papier in rötlichen Tönen herzustellen. Das funktioniert, denn wir haben das schließlich erprobt. Um gelbliche Töne zu erzeugen, nahmen wir z.B. Medikamente. Auch diese rochen natürlich, aber wir nutzten sie, wenn wir überschüssige Medikamente hatten. Diese wurden dann ebenfalls in eine Schüssel mit Wasser gegeben, wo wir dann das Papier und etwas Zucker reinlegten. Wir taten dort dann auch etwas Reiskleber hinzu, um zu sehen, ob es besser haftet. Durch ständiges Experimentieren schafften wir es, buntes Papier herzustellen. Somit hatten wir für unsere Briefe und auch für unsere Gefangenenzeitschriften buntes Papier zur Verfügung. Uns zugesandte Zeitschriften mit schönen und bunten Naturfotos mochten wir gerne, da sie uns etwas das Gefühl gaben, draußen zu sein. Wir benutzen solche Zeitschriften und Teile aus alter und zerrissener Kleidung aber auch dazu, um Kollagen herzustellen.
Wenn uns unser Grundbedarf verwehrt wurde, sahen wir halt zu, dass wir aus den uns zur Verfügung stehenden Mitteln diesen Bedarf selbst herstellten. Dadurch ergaben sich Ideen, auf die du sonst vielleicht nicht kommen würdest, denn du bist in dem Moment auf einen bestimmten Bedarf fokussiert. Wenn du beispielsweise Farben benötigst, dann schaust du nach allem, was Farben enthält. Wenn du ein Seil benötigst, dann schaust du, woraus du ein Seil herstellen kannst. Das kann dann z.B. ein Bettlaken sein, von dem du zwei Zentimeter dicke Streifen abreißt und diese dann zu einem Seil wickelst. Oder es kann ein altes T-Shirts sein, aus dem du dann Fäden herstellst.
Die Nutzung von Erde ist ein weiteres Beispiel. In den F-Typen gibt es nämlich keine. Die F-Typen wurden außerhalb der Städte auf offenem Feld errichtet. Durch den Wind gelangten aber Gräser, Staub, Erde, Blätterreste, Heu, usw. in die Höfe der Knäste und sammelten sich dort an. Dies kehrten wir zusammen und versuchten, es als Erde zu nutzen. Manchmal wehte uns der Wind sogar Samen in die Höfe. Zudem sammelten wir die Samen von Gemüse wie Gurken oder Tomaten und Früchte wie Zitronen, welche wir in der Kantine kaufen konnten. Wir haben den Samen dann gepflanzt und Pflanzen gezüchtet.
Aus Olivenkernen haben wir sehr kreative Dinge hergestellt. Die Kerne haben wir auf dem Beton gerieben und ihnen dadurch eine Form gegeben. Die Kerne haben innen eine kleine Höhlung. Durch diese haben wir mit Hilfe einer Nadel einen Faden durchgeschoben und somit Tesbih (Gebetskette: red.) hergestellt. Eine solche Tesbih habe ich sogar noch. Ich hatte diese damals – als ich eingesperrt war – hergestellt und einem draußen einem Freund geschickt. Und dieser Freund hat sie mir nach Jahren mit den Worten „erinnerst du dich noch an diese Tesbih“ gezeigt und sie mir geschenkt. Und den Faden für diese Tesbih hatte ich mir damals von den Jalousien aus dem Räumen der Gefängnisleitung genommen und in meine Hosentasche gesteckt.
Es gibt dutzende weitere kreative Beispiele, die ich nennen könnte. Denn du musst kreativ sein unter diesen Bedingungen. Unsere Parole lautete: „Direnmek Üretmektir“ (Widerstand ist Schaffen; red.).

Redaktion: Wir können also sagen, dass ihr eure kollektive Arbeitsweise und eure Gefangenenkollektive unter den Haftbedingungen der F-Typen bewahrt habt. Welche Bedeutung haben die F-Typen und welche hat die Kollektivität?

İhsan Cibelik: Weswegen beharrt der Staat auf Isolation und weswegen geht er über Leichen, um diese anzuwenden? Die Antwort auf diese Frage beantwortet alles. Isolation nämlich bezweckt Individualisierung und Vereinzelung. Und der Staat begeht Massaker, um seinen Willen durchzusetzen. Wir haben uns gegen den Zwang der Vereinzelung zur Wehr gesetzt. Aus unserer Sicht kommt Vereinzelung dem Tod gleich. Mit Herz und Verstand kämpfen wir für das Volk und befinden uns in einem gesellschaftlichen Kampf. Die Bourgeoisie betrachtet dies als ein Verbrechen und empfindet uns als Gefahr. Deswegen versucht sie uns davon abzuhalten, zusammenzukommen und uns mit gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Sie möchte nicht, dass sich das Volk organisiert. Sie möchten, dass wir zu vereinzelten Geschöpfen werden. Der Mensch ist ein soziales Wesen und genau das wollen sie ändern. Sie möchten die Organisierung, die Ideen, die Empfindungen für gemeinsames Handeln und den Solidaritätsgeist von Grund auf vernichten. Der Mensch soll zu einem armseligen, einsamen und zu einem sich den Zwängen beugenden Geschöpf werden. Genau dagegen haben wir Widerstand geleistet. Dieser Widerstand war für uns gleichzeitig eine Lebensweise. Ein gemeinsames Leben. Ein kollektives Leben. Und dieses Leben, das mit individualistischem Dasein nicht verglichen werden kann, haben wir verteidigt. Natürlich kann es auch alle erdenklichen Probleme geben, wenn Menschen zusammen sind. Deswegen kann dem aber nicht Vereinzelung als Gegenstück entgegengesetzt werden. Denn Probleme können gelöst werden. Und wenn sie sich nicht lösen lassen, dann ist es auch in Ordnung. Denn sogar ein Streit ist eine soziale Angelegenheit und ein soziales Verhalten.
Weil wir die Dinge aus diesem Blickwinkel betrachten und nur zu gut wissen, was der Staat beabsichtigt, waren wir beharrlich. Deswegen versuchten wir, bei all unserem Schaffen die Ideen und Empfindungen von allen unseren Freundinnen und Freunden einzuholen und zu teilen. Die sich daraus ergebenden Resultate waren aus ideologischer und menschlicher Sicht und in Anbetracht unserer Standhaftigkeit äußerst wichtig und die Reichhaltigkeit derer war teilweise wirklich überragend. Nicht immer erreichen die künstlerischen Resultate die Tiefe und den Inhalt bekannter Kriterien, aber das Gefühl, dass dem Schaffen eine soziale, kollektive und organisierte Basis zugrunde liegt, hält uns auf den Beinen und ist uns sehr wichtig. Die Texte und teilweise auch die Kompositionen der Lieder, die in den Knästen entwickelt wurden und es in ein Grup Yorum-Album schaffen, sind Produkte dieses kollektiven Schaffens. Die Lieder, die draußen verfasst werden, sind sowieso Resultate kollektiver Arbeit. Dutzende unserer Familien sowie etliche Menschen hören sich die Lieder an und sind im Austausch mit unserem Kollektiv. Deren Meinung und Kritik wird eingeholt. Sogar die professionellen Musikerinnen und Musiker, die mit uns zusammenarbeiten, bringen ihre eigenen kreativen Vorschläge und Vorstellungen mit ein. Dem kollektiven Leben sind keine Grenzen gesetzt.

Redaktion: Wir bedanken uns für dieses Gespräch und freuen uns auf euer neues Album.


[1] Bergün Varan wurde am 26. September 2017 freigelassen.
[2] Am 20. Mai 1996 begaben sich revolutionäre Gefangene in der Türkei in ein Todesfasten (Hungerstreik bis zur Erfüllung der Forderungen), um die Verlegung der revolutionären Gefangenen in Isolationsgefängnisse zu verhindern. Bei dem 63 Tage währenden Widerdstand kamen 12 Menschen ums Leben.
[3] Günay Öğrener war eine revolutionäre Gefangene, die sich dem Todesfasten gegen die als F-Typen bezeichneten und nach Stammheimer Modell errichteten Isolationsknäste anschloss. Der Todesfastenwiderstand dauerte von 2000 bis 2007 an und führte zum Tod von 122 Menschen.
[4] Gefangenenzeitschriften: Die Gefangenen aus der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) fertigten ohne die Hilfe von Computern, Druckern und Kopiergeräten nach Eröffnung der F-Typen politische Satirezeitschriften an. Diese erscheinen bis heute in mehreren F-Typ-Knästen der Türkei.
[5] Bedeutet soviel wie „Kann uns nichts anhaben“ und ist an das Grup Yorum-Lied „Eure Mauern können uns nichts anhaben“ angelehnt. „Vız“ ist das Geräusch, das eine Stechmücke macht. Die Bezeichnung „Vız Gelir“ bedeutet sinngemäß „Es ist mir Bzzz“ und heißt, dass jemand von etwas so wenig beeindruckt ist wie von einer Stechmück
[6] Eine „Taklacı” ist eine Tümmlertaube. Dies ist eine Bezeichnung für Tauben, die in der Lage sind, Saltos im Flug zu schlagen.
[7] Panels sind die einzelnen Bilder in einer Comic-Sequenz.„
[8] „Der stille Tod“ ist ein halbdokumentarischer Film des Regisseurs Hüseyin Karabey über Isolationshaft, in der ehemalige politische Gefangene über ihre Erfahrungen mit der modernen, sterilen Foltermethode berichten, die auch als „weiße Folter“ bezeichnet wird. Zum Film erschien ein Buch, das die im Film enthaltenen Interviews in ungekürzter Fassung enthält.