Sakine Cansiz
Mein ganzes Leben war ein Kampf: 1. Band – Jugendjahre
Mezopotamien Verlag, 444 Seiten
ISBN: 978-3941012981
Sakine Cansiz
Mein ganzes Leben war ein Kampf: 2. Band – Gefängnisjahre
Mezopotamien Verlag, 544 Seiten
ISBN: 978-3945326114
„Am 9. Januar 2013 stand die Welt für alle, die der kurdischen Befreiungsbewegung verbunden sind, einen Moment still. Eine ihrer wichtigsten Persönlichkeiten, Sakine Cansiz, war gemeinsam mit ihren Genossinnen bei einem politischen Attentat in Paris ermordet worden“, so die Übersetzerinnen in ihrer Anmerkung zu dem in Januar 2015 erscheinenden Buch „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ von Sakine Cansiz.
Sakine Cansiz schloss sich der kurdischen Befreiungsbewegung zu einer Zeit an, als diese sich gerade erst formierte. Sie war eine der wenigen Frauen, die am Gründungskongress der kurdischen Arbeiterpartei PKK teilgenommen haben. Bis zu ihrem gewaltsamen Tod am 9. Januar 2013 setzte sie ihren Kampf ohne Unterbrechung fort. Ihre Biographie, die sich über drei Bücher erstreckt, wovon aktuell zwei auf deutsch erschienen sind, beschreibt die Entstehungsgeschichte der Befreiungsbewegung aus Frauensicht.
Sakine Cansiz berichtet in den Büchern sehr offen von ihren Erfahrungen, von ihren subjektiven Erlebnissen, aber auch über ihre Politisierung und ihren Kampf. Die Bücher machen verständlich warum und wie sich Frauen in einer feudalen Gesellschaft wie der Kurdistans dem Befreiungskampf angeschlossen und in ihm organisiert haben, welche Schritte seit den Anfängen bis heute zurückgelegt und welch großer Preis dafür gezahlt werden musste.
Ihre Biographie schrieb Sakine Cansiz in den 90er Jahren. Am Anfang des 1. Buches können wir zur Entstehungsgeschichte des Buches lesen:
„Es war nicht einfach, aus den Notizen, die ich mir vor einem Jahr gemacht hatte, ein Buch zu schreiben. Als ich die Texte geschrieben hatte, dachte ich überhaupt nicht daran, sie als Buch zu veröffentlichen. Zu einem fand ich es zu früh, zu anderem war es kein natürlicher Schreibprozess. Er fand in einer Zeit und Umgebung statt, die von tiefgreifenden Auseinandersetzungen geprägt war. Was ich über einen längeren Zeitrahmen geschrieben habe, war eine Last, die sich in jenem bewegten Tagen in Zap Gebiet mal in meinem und mal in Ferdas Rucksack befand. […].
Es fiel mir schwer, mich ein weiteres Mal mit meinen Kämpfen auseinanderzusetzen und dabei die Geschehnisse, die mich beeinflusst haben, noch einmal zu erleben. Ich habe versucht alles so wiederzugeben, die es meinen Erinnerungen entspricht. Dennoch ist dieses Buch nur ein Ausschnitt dessen, was geschehen ist.“
Im ersten Band der Trilogie, der den Namen „Jugendjahre“ hat, schreibt Sakine Cansiz, über die Zeit von ihrer Geburt bis zur ihrer Verhaftung 1979. Sie schreibt sehr detailliert über ihre Kindheit, ihre Jugendjahre. Man fühlt sich in die Straßen und Häuser von Dersim und an die anderen Orte, wo sie lebte und besuchte, versetzt. Es ist immer ein Gefühl da, als ob man mit ihr laufen würde. Es ist eine unruhige Zeit, in der sie aufwächst. Sie stellt sich sehr viele Fragen und nimmt die Leser mit auf die Suche nach Antworten. Manchmal hört man zwischen den Zeilen ihr Lachen und ihre Traurigkeit.
Der 2. Band der Trilogie trägt den Namen „Gefängnisjahre“. Er umfasst die elf Jahre, die sie nach ihrer Verhaftung 1979 bis 1990 in den diversen Gefängnissen der Türkei verbringen musste. Das Buch handelt vom Widerstand gegen Entmenschlichung, von Willensstärke und unerschütterlicher Hoffnung.
Die Bücher geben einen guten Einblick in die kurdische Befreiungsbewegung, geht auf deren Geschichte von den Anfängen bis in die 90er ein und zeichnet ein Bild einer Frau, die seit jungen Jahren für die Befreiung von Kurdistan gekämpft hat. Auch wenn die Bücher an manchen Stellen etwas zu detailliert zu sein scheinen, fügt sich alles zu einem Gesamtbild zusammen das das Bild der Bewegung und der Person Sakine Cansiz ergibt. Alles in allem also sehr lesenswerte Bücher.
Um etwas Einblick in die Bücher zu bekommen wollen wir hier mit einigen Passagen aus den Büchern den Lebensweg von Sakine nachzeichnen lassen:
Über ihre Geburt schreibt Sakine:
„Ich bin genau zu Neujahr 1958 im Dorf Tahti Halil in Dersim zu Welt gekommen. Mein Vater war zu jener Zeit beim Militär. Meine Geburt zeigte er während seines Urlaubs im Februar an, deshalb ist mein offizieller Geburtstag der 12. Februar. Bedeutet es wohl ein besonderes Glück, im strengen Winter geboren zu werden? Am besten fange ich mit diesem Punkt an, an das Glück zu glauben. Meiner Meinung nach bedeutet es also Glück, zu Neujahr mitten im Winter in einer sehr verschneiten Gegend zur Welt zu kommen.“
Sakine verbrachte die ersten Jahre ihres Lebens in diesem Dorf in Dersim. Auch heute noch ist die Region geprägt von dem Genozid des türkischen Staates gegen die kurdisch – alevitische Bevölkerung im Jahr 1938. Mindestens 60.000 Menschen wurden ermordet, Zehntausende deportiert und vertrieben.
„Meine Mutter und mein Vater sind Kinder des Genozids von Dersim. Während der Jahre des Massakers trug meine Mutter noch Windeln. Meine Großmutter versteckte sich mit ihren Kindern, Schwiegertöchtern und Enkeln in einem dichten Wald nahe des Munzur-Ufers. Sie fand nicht einmal die Gelegenheit, ihre Kinder zu stillen. Meine Mutter war das jüngste Kind und weinte ständig vor Hunger. In der Angst, dass ihre Stimme den Aufenthaltsort verraten könne, wollte mein Onkel meine Mutter in Windeln gewickelt in den Munzur werfen. Am anderen Ufer des Munzur verlief eine neu gebaute Straße, die von Militärfahrzeugen genutzt wurde. Die Soldaten machten dort auch manchmal Rast. Deshalb war das Risiko groß, dass das weinende Kind gehört werden könnte. Mein Onkel wollte also meine Mutter aus den Armen meiner Großmutter reißen und ins Wasser werfen. Aber meine Großmutter schrie auf, nahm meine Mutter wieder an sich und schloss sie in die Arme. Sie flehte meinen Onkel an und schwor, dass sie das Kind zum Schweigen bringen könne. So wurde meine Mutter gerettet. Später, wenn meine Mutter sehr wütend war oder das Leben unerträglich fand, pflegte sie im Zorn zu sagen: ‚Ach, hätten sie mich doch damals ins Wasser geworfen, dann wäre mir all das erspart geblieben.‘“
Sakines Muttersprache war zaza, eine der kurdischen Sprachen. Türkisch lernte sie erst in der Schule.
„Türkisch zu lernen war eine einzige Folter. Es fiel uns sehr schwer, obwohl wir lernbegierig waren. Neue Wörter lernten wir schnell. Unsere Lehrer rieten uns, auch außerhalb der Schule immer türkisch zu sprechen. „Wenn ihr kurdisch sprecht, bekommt ihr Schläge“, sagten sie. Ich bedrängte meine Familie, auch zu Hause türkisch zu sprechen, damit meine Mutter es schneller lernte und sich nicht vor den Nachbarn lächerlich machte. Es kam vor, dass ich zu ihr sagte: „Du machst Fehler beim Reden, das ist mir peinlich“. Und da sagte sie mir, ich dürfe mich nicht meiner kurdischen Herkunft schämen. In späteren Jahren, als mir diese Dinge etwas mehr bewusst geworden waren, erinnerte ich mich an ihre Worte und bereute meine damalige Scham. Erst da begriff ich, wie fremd mir meine Muttersprache geworden war.“
Die linken Bewegungen der 60er und 70er Jahre machten sich auch in Dersim bemerkbar.
„In der fünften Klasse der Grundschule lernte ich neue Dinge. Es kam zu einer Reihe von Vorfällen, die ich nicht verstand und nicht einordnen konnte. In den Radionachrichten hörte ich von Zeit zu Zeit zufällig Meldungen, die mit den Worten ‚Bei einem Gefecht mit Terroristen…‘ anfingen und mit Tod oder Verhaftungen endeten. Die Nachrichtensprecher hatten dabei sehr ernste Stimmen. In der zweiten Klasse der Mittelschule unterrichtete uns der Lehrer Yusuf Kenan Deniz in Literatur. Eines Tages erzählte er uns etwas sehr Ungewöhnliches. Er malte ein Dreieck mit zwei langen Seiten an die Tafel. Im oberen Teil des Dreiecks zog er einen Strich, so das ein weiteres kleines Dreieck entstand. Den oberen Teil benannte er als Klasse der Herrschenden und Ausbeuter, den großen unteren Teil als Schicht der unterdrückten Arbeiterklasse und des Volkes. In einfachen Worten versuchte er uns begreiflich zu machen, wie Ausbeutung und Unterdrückung funktionieren. Er sprach von der Notwendigkeit, sich als Unterdrückte zu organisieren und gegen die Herrschenden zu kämpfen.“
Als Jugendliche nahm Sakine zum ersten Mal an Demonstrationen teil. Mit 17 Jahren wurde sie verlobt.
„Meine Mutter ließ mich an meiner Aussteuer arbeiten. Sie brachte die schwierigsten und schönsten Beispiele von Stickereien und Kreuzsticharbeiten mit nach Hause. Während sie mir diese Kunst beibrachte, arbeitete sie selbst auch fleißig mit. Manche jungen Mädchen arbeiteten mit großer Leidenschaft an ihrer Aussteuer. Sich auf die Ehe vorzubereiten und sich selbst als Heiratskandidatin zu betrachten, war ein Traum vieler Mädchen. Mir machte das keinen Spaß. Eines Tages, während ich in der Schule war, wurde ich versprochen. Meine Meinung dazu war nicht so wichtig. Ich leistete auch keinen Widerstand mehr. Ich war unentschlossen, aber ohnehin hatte meine Mutter an meiner Stelle entschieden und auch meinen Vater überredet. Als ich aus der Schule nach Hause kam, hieß es, dass die Verlobung umgehend stattfinden werde. Es machte keinen Sinn mehr, sich dagegen aufzulehnen.“
Auch nach ihrer Verlobung ging Sakine weiter zur Schule. Sie bekam Kontakt zu verschiedenen linken Gruppen und stritt sich immer häufiger mit ihrer besorgten Mutter.
„Noch immer waren mein Handeln und meine Suche von einem fehlenden Bewusstsein geprägt. Langsam bewegte ich mich auf ein Fundament zu, das mich anzog und beeindruckte. Dabei konnte mich nichts aufhalten. Damals hatte meine Mutter noch viel mehr Einfluss auf mich als die Polizei oder das Militär. Ich durfte machen, was ich wollte, nur mit Politik durfte es nichts zu tun haben. Dabei gab es noch gar nichts Konkretes. Ich tat nichts besonderes, außer hier und da ein Buch zu lesen und an Diskussionen teilzunehmen oder dabei zuzuhören. Was machte ihr also solch eine Angst? Ihre Intuition sagte ihr, dass sie kurz davor stand, mich zu verlieren. Ich kämpfte gegen eine Frau, eine Mutter. Sie war meine Geschlechtsgenossin und ausgerechnet die Frau, die mir am nächsten stand. Trotzdem wünschte ich mir nicht, als Junge auf die Welt gekommen zu sein. Sie sagte oft, ‚Wärst du doch bloß kein Mädchen‘, und mit jedem Mal liebte ich das Frausein mehr.“
Schließlich lernte sie Menschen aus dem Umfeld von Abdullah Öcalan kennen, die sie zunächst durch ihre bescheidene Lebensweise sehr beeindruckten.
„Schritt für Schritt bewegte ich mich auf eine Positionierung zu, die stark genug war, andere herauszufordern, die mir Vertrauen einflösste, die das Gefühl in mir weckte, dass sie alles in sich barg und mich eine in keine Norm passende Freude und Aufregung erleben ließ. Es gab kein Zögern, keine Zurückhaltung, keinen Zweifel. Ich fragte nicht danach, wohin diese Geschichte führen würde, wer diese Leute eigentlich waren und wofür sie eintraten. Die Antwort auf all diese Fragen war in dem Vertrauen, der Achtung und der Liebe verborgen, die ich aufgrund der Lebensweise der Genossen ihnen gegenüber empfand. Ich war mir sicher, dass ich mit der Zeit eine Antwort auf jede einzelne Frage bekommen würde. Es ist nicht einfach, das alles zu beschreiben, und es ist schwer, es zu begreifen, ohne es selbst erlebt zu haben. Schreiben reicht nicht aus, um die Schlichtheit und Schönheit jener Tage und meine damaligen Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Beim Schreiben erlebe ich diese Gefühle, die mich damals erfassten, von ganzem Herzen und in vollem Bewusstsein noch einmal. Es war wunderschön, so vorbehaltslos und unverfälscht über Widersprüche und Kämpfe zu einer Überzeugung, einem Ideal zu gelangen. Ich empfand es als ein großes Glück und ich wiederhole mit lauter Stimme: Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, weil ich an diesem Kampf teilhabe.“
Aber nicht nur die Lebensweise, auch die Inhalte, die die Gruppe um Abdullah Öcalan vertrat, waren für Sakine wie eine Offenbarung.
„Ich fühlte mich, als hätte ich endlich gefunden, wonach ich gesucht hatte. Einige Geschichtszahlen und Einzelheiten vergaß ich sofort wieder, aber eine Sache schwirrte mir ständig im Kopf herum: ‚Kurdistan ist eine Kolonie. Das kurdische Volk wird basierend auf seiner eigener Kraft und mit einer eigenen Organisation unter eigener Führung für seine nationale Befreiung kämpfen. Es wird ein unabhängiges, vereintes, demokratisches, freies Kurdistan gegründet werden, in dem Frieden und Wohlstand herrschen…‘
‚Das türkische Volk ist nicht unser Feind. Wir sind mit ihm geschwisterlich und freundschaftlich verbunden. Unser Kampf wird mit ihm gemeinsam geführt werden, aber wir werden uns so organisieren, wie es die Bedingungen in Kurdistan erfordern.‘“
Im politisch aufgeheizten Dersim der 70er Jahre versuchte Sakine diese Erkenntnisse in ihrem Umfeld zu verbreiten:
„Am Gymnasium waren die türkischen linken Gruppen in der Mehrheit. Die Diskussionen verliefen hart und endeten oft im Streit. In meiner Klasse war ich fast die Einzige, die die neue Ideologie vertrat. Beharrlich brachte ich meine Argumente hervor, die allerdings nur aus ein paar Sätzen bestanden. Es war unerträglich für mich, als nationalistisch bezeichnet zu werden. Ich reagierte darauf, indem ich die anderen als assimilierte Ignoranten bezeichnete, die ihr wahres Selbst verloren hatten und sich für ihre kurdische Identität schämten.“
Sakine politisierte sich weiter und flüchtete schließlich vor dem Druck ihrer Mutter unter abenteuerlichen Umständen nach Izmir, wo sie sich zunächst zum Schein mit ihrem Cousin Baki verlobte und in verschiedenen Fabriken arbeitete. Sie beteiligte sich am Arbeiterwiderstand und hielt dabei an ihren politischen Standpunkten fest, obwohl es damals noch überhaupt keine organisierten Strukturen der kurdischen Befreiungsbewegung gab. Ihr nahes soziales Umfeld bestand aus ihrem Verlobten und seinen Geschwistern, die alle verschiedenen Fraktionen der türkischen Linken angehörten. Sakine schreibt darüber:
„Wir standen immer noch unter dem Einfluss des Systems. Die Männer waren von feudalen, kleinbürgerlichen Strukturen und einer sozialchauvinistischen Ideologie geprägt. Ich selbst war hingegen unerfahren im organisierten politischen Kampf. Was Liebesbeziehungen betraf, war ich gleichzeitig auf der Suche und auf der Flucht. Da auch ich mich nicht von traditionellen Einflüssen freimachen konnte, gelang es mir nicht, längerfristig eine konsequente Position einzuhalten. Ich ließ mich von meinen Gefühlen leiten. Ich wollte mich mit meinem ganzen Dasein dem Kampf widmen, aber ich hatte nur eine sehr verschwommene Vorstellung davon, wie ein organisierter Mensch lebt.“
Nach einer bewegten Zeit in Izmir konnte Sakine wieder einen Kontakt zu der kurdischen Befreiungsbewegung knüpfen. In Ankara traf sie das erste Mal auf Apo, Abdullah Öcalan:
„Nach einer intensiven Zeit, die von rebellischen und voreiligen Gefühlen geprägt und voller unerwarteter, konfliktreicher Ereignisse war, befand ich mich jetzt wieder in Ankara und traf direkt auf den Vorsitzenden.
Von anderen wurden wir „Apocu“ genannt. In der Anfangszeit regte ich mich über diese Bezeichnung auf, da es falsch war, eine Bewegung so zu nennen und außerdem der Vorsitzende damit in Gefahr gebracht wurde. Letztlich war jedoch der Name nicht so wichtig. Apo war ein Individuum, das für Prinzipien, Revolution, Internationalismus, Liebe zum Land und einen unerbittlichen Kampf stand.
Ja, wir waren Apo-AnhängerInnen! Im Grunde genommen gefiel mir diese Bezeichnung, sie machte mich stolz, auch bevor ich den Vorsitzenden zum ersten Mal gesehen hatte. Am meisten beeindruckte mich seine Fähigkeit, Menschen zuzuhören und zu verstehen. Er sprach ein Thema niemals direkt an und bezog sich in seinen Analysen nicht auf eine einzige Person oder einen einzigen Vorfall. Wenn er redete, hatte ich dennoch das Gefühl, dass er genau das ansprach, was in mir vorging. Mir eröffneten sich neue Horizonte, wenn er zum Ausdruck brachte, was uns alle anging: das gesamte Leben, die Zukunft, der Kampf und was wir als Individuen dazu beizutragen hätten.“
Schließlich kehrte Sakine nach Kurdistan zurück und begann professionell für die Befreiungsbewegung zu arbeiten. Ihre Hauptaufgabe war es Frauen für den revolutionären Kampf zu gewinnen und die Ideologie ihrer Gruppe in der Bevölkerung zu verbreiten. Sie organisierte junge Frauen in Bildungsgruppen, in denen gemeinsam gelesen und diskutiert wurde. Die gesamte Arbeit musste konspirativ stattfinden. Dabei bereiste sie auch verschiedene kurdische Gebiete und gewann neue Eindrücke:
„Der Begriff Heimat bekam für mich eine neue Bedeutung, als ich die Schönheiten Kurdistans entdeckte. Es machte mich glücklich und stolz, Teil des Kampfes für dieses Land zu sein, dessen offensichtliche Armut mir manchmal die Tränen in die Augen trieb. In Malazgirt übernachteten wir bei einer Familie, deren Armut beispielhaft für die Realität des kurdischen Volkes war. In der einen Ecke des Hauses schlief die Kuh, in der anderen die Frauen und Kinder. Das Fenster war aus Plastikfolie. Das Leben dieser Familie war geprägt vom Gestank von Kuhmist, dem Muhen der Kuh und dem Geschrei der Kinder. Zum Frühstück wurde mir außer selbstgemachtem Käse ein Ei serviert, das über dem Feuer aus Kuhmist gekocht worden war. Der Tisch war nur für mich gedeckt, die Kinder hielten Abstand. Ganz offensichtlich war das Ei etwas Besonderes, das ausschließlich dem Gast vorbehalten war. Aber wie sollte ich es essen, starrten doch alle Kinder begehrlich darauf? Solche Armut sah ich nicht zum ersten Mal, dennoch ging es mir nahe. In Kurdistan gehörten Armut und Leid zum Leben dazu. Waren Kinder davon betroffen, war es noch unerträglicher.“
Die Frauenarbeit war nicht einfach. Sakine schreibt dazu:
„Einige der Frauen wollten sich gegen ihre Unterdrückung zur Wehr setzen, sich bilden und verändern. Andere hingegen verhielten sich völlig kontraproduktiv. Eigentlich war das ganz normal. In Kurdistan gab es nicht einmal den Ansatz einer Frauenbewegung. In vielen Ländern weltweit organisierten sich Frauen für die Durchsetzung ihrer Rechte. In Kurdistan hingegen waren Gleichberechtigung und Frauenbefreiung noch Fremdwörter. Einhergehend mit der Formierung der nationalen Befreiungsbewegung wachten auch die Frauen langsam auf. Es fehlte jedoch an Bewusstsein und die meisten Frauen lebten schicksalsergeben weiter wie bisher.“
Sakine nahm schließlich 1978 als eine von zwei Frauen am Gründungskongress der PKK teil. In ihrem Buch schildert sie sehr anschaulich ihre Scheu davor, auf dieser Versammlung zu sprechen. Hier wird auch ein wesentlicher Charakterzug von Sakine deutlich.
„Die meisten der anwesenden Freunde waren führende Kader, die die Inhalte der Diskussion beherrschten. Ich konnte mich nicht mit ihnen messen und sagte mir: ‚Diese Freunde tragen eine große Verantwortung, sie wissen, wovon sie sprechen und ihre Bewertungen sind dementsprechend umfassend und vielschichtig. Ich kann ja gar nichts Wesentliches beitragen, deshalb muss ich auch nichts sagen.‘ Aber die Inhalte der Diskussion gingen schließlich uns alle etwas an, daher entschloss ich mich doch, mich zu Wort melden. In einigen Berichten wurde von der Arbeitsweise gesprochen. Daraufhin teilte ich meine Meinung zu unserer Arbeit in Elazığ mit und verwies auf die Schwächen bei der Arbeit mit Frauen. Ich betonte, dass die Freunde sich nicht einmal bemühten, ihre Ehefrauen und Schwestern in die revolutionäre Arbeit einzubeziehen, sondern immer darauf warteten, dass eine Genossin komme und die Frauen organisiere. Vor allem bei den führenden Kadern war das ebenso erstaunlich wie verkehrt.“
Nach dem Kongress arbeitete Sakine weiter in der Frauenorganisation und wurde schließlich damit beauftragt, die kurdische Frauenbewegung zu gründen.
„Ich sollte zusammen mit Ayten und Meral als Komitee daran arbeiten. Das war eine sehr erfreuliche Neuigkeit. Ich war aufgeregt und glücklich. Die Frauenbewegung aufbauen! Es war keine leichte Aufgabe, sich das notwendige Wissen über die Theorie und Praxis der Frauenbewegungen weltweit von der Vergangenheit bis heute anzueignen und daraus Schlüsse für Kurdistan zu ziehen. Es war die schönste und notwendigste Arbeit, die ich mir vorstellen konnte. Ich war ungeduldig und wollte sofort damit beginnen.“