Brief von Tomas Elgorriaga Kunze

Tomas Elgorriaga Kunze, 28.11.2016

Liebe FreundInnen und GenossInnen,

(…) Es gibt unter den sozialen Gefangenen tatsächlich sehr viele, die sich den ganzen Tag auf der Zelle langweilen, wogegen nicht einmal mehr das TV-Glotzen hilft. Einige versuchen sich damit abzulenken, dass sie sich für irgendeinen Kurs in der Schule einschreiben. Immerhin wird hier neben verschiedenen Französisch-Stufen auch mittlere Reife und sogar Abi angeboten. Letzteres wird in diesem Gebäude (ca. 1000 Gefangene) von einem guten Dutzend in Anspruch genommen. Entsprechend gibt es Kurse in Geschichte, Philosophie, Mathe, und wenn sich genug zusammenfinden auch Geographie, usw. Englisch und Spanisch werden auch angeboten und angenommen. Aber seit vor ca. 1 Jahr die rechte „Les Rèpublicans“ die Region „Ile de France“ übernommen hat, sind die Zuschüsse für Knäste stark zurückgegangen, folglich gibt es statt 2 Englisch-Stufen nur noch eine.
Worauf ich hinaus wollte: mir wird nicht langweilig, ich habe genug zu lesen und zu schreiben, und oft würde ich nicht einmal in den Hof gehen, weil das Theater meine Arbeit unterbricht. Mit Theater meine ich das warten auf die BeamtInnen, filzen, runterlaufen, und wieder zurück. Aber da wir uns den Zeitpunkt für den Hofgang nicht aussuchen können, muss ich mich anpassen.
Und in die „Schule“ gehe ich auch. Das war jetzt die Ausrede für die verspätete Antwort zu eurer Frage. Den letzten Brief von euch habe ich am 11.07.2016 bekommen (Briefdatum 7.7.) mit den GI´s von Jan-März-April-Juni 2016 und weiterem Material. Seit dem habe ich von euch nichts mehr bekommen, auch keine GI. Ansonsten bekomme ich alles mögliche per Post, sowohl aus dem Baskenland wie aus Deutschland. Die Junge Welt ist in 2-4 Tagen hier, sonstige Zeitungen, Fotokopien, Zeitungsausschnitte, Broschüren, Zeitschriften, sogar die Monographie der Roten Hilfe „Hitlers Knäste“ ist angekommen.
Warum das GI irgendwo blockiert werden sollte, ist mir also ein Rätsel. Und ganz ehrlich gesagt habe ich mich schon ein wenig gewundert, warum es nicht mehr kommt. Es wäre ein Versuch wert, es mit einem anderen Absender oder Namen zu schicken, um den Zensurpunkt ausfindig zu machen…
Inzwischen gab es hier ein paar kleine Änderungen. Unserer „kleiner“ Kampf hatte Erfolg und seit dem 30. August sind wir alle 6 baskische politische Gefangenen im gleichen Gebäude und Stockwerk zusammen. Jetzt ist es für uns etwas ruhiger geworden, und für FreundInnen und Angehörige einfacher, sich für die Besuche abzusprechen.
Was die allgemeine Lage draußen angeht, es macht mich stutzig, dass es jeden Tag noch negativere Neuigkeiten geben kann. Hier in Fleury, Hauptknast für Paris, werden täglich etwa doppelt so viele Menschen eingesperrt als noch vor einem Jahr.
Sozialen Problemen gegenüber kennt die Justiz nur noch mehr Repression. Und die Staaten in ganz Europa versuchen erst gar nicht nach Ursachen oder echten Lösungen zu suchen (die sind ja auch lange bekannt, führten aber zwangsmäßig zur Systemfrage).
Im Baskenland ist gerade vor einem Monat die Repressions-Schraube um eine Umdrehung angezogen worden. Nach dem jede Solidarität mit politischen Gefangenen schon lange als „Unterstützung von Terrorismus“ gilt oder das öffentliche Zeigen ihrer Fotos als „Verherrlichung“ verfolgt wird, wurden nun 7 Menschen -nach einer Auseinandersetzung mit 2 spanischen Polizisten (in Zivil) in einer Kneipe- eingesperrt und des „terroristischen Attentats“ angeklagt. Es geht nur um ein Gerangel und ein paar Kratzer beiderseits. Wobei die „Guardia Civil“ –Beamten am Ende (obwohl außer Dienst) ihre Waffen gezogen hatten.
Aber auch in Deutschland wird inzwischen fast jeder rechte Aufmarsch polizeilich geschützt und jeder linke Protest verfolgt. Was wir aus der Türkei hörenist ja nur der Extremfall vom Prinzip, das in ganz Europa gilt. Spanien, Frankreich, Griechenland, Polen, Ungarn, England… aber auch Finland, Deuschland, Schweiz, usw. bieten uns die ganze Bandbreite an Repressionsmaßnahmen, die überall ausprobiert werden und vielleicht bald flächendeckend angewendet werden.
Es ist besorgnisserregend zu sehen, dass wir uns bereits in der Phase befinden, wo der Kapitalismus zu existenziellen Schutzmaßnahmen greifen muss, in Voraussicht der kommenden Zerwürfnisse. Hastige Polizei- und Militär- Aufrüstung, Autoritarismus und Rechtsrutsch.
Bei mir persönlich gibt es nichts Neues. Im Oktober hatte ich ein Freilassungsantrag gestellt, da ich bereits seit 2 Jahren in Haft sitze und ich im März 2016 zu eben 2 Jahren verurteilt worden war. Der Staatsanwalt hatte Einspruch eingelegt5, und der Richter hat meinen Antrag grundlos abgelehnt, obwohl ich eine Menge Unterstützungsschreiben, Wohnadresse und Jobangebot vorgelegt habe. Aber an Tricks fehlt es der europäischen Justiz nicht. So wird meine Haftzeit in Deutschland (1 Jahr JVA- Mannheim) hier erst nach dem endgültigen Urteil angerechnet. Also gilt es wohl bis zur Berufungsverhandlung im Januar 2017 abzuwarten. Es ist von einer Erhöhung der Strafe auszugehen, so wie die französischen Richter in letzter Zeit gegen politische Gefangene urteilen.
Es ist sehr schwierig, sich geeignete Strategien auszudenken, für die vermutlich längere Konfrontationsphase, die vor uns liegt. Ich denke, es geht nicht mehr in erster Linie um Widerstand, sondern wir müssen verstärkt parallele Lebensstrukturen aufbauen, die Schutz bieten vor den kommenden sozialpolitischen Angriffen und uns das Leben leichter machen, und zugleich Alternativen für die Mehrheitsgesellschaft vorzeichnen. Es läuft ja auch schon sehr viel, fast überall, zu Ernährungssouveränität, Wohnraum, usw.

Nun erst einmal viel Mut, und Danke für eure Arbeit!
Soli-herzliche Grüße, Tomas