„Bis hierher ging’s noch ganz gut?“

Ausgebranntes Fahrzeug bei Nancy 2023
Ausgebranntes Fahrzeug bei Nancy 2023

Frankreich nach den Aufständen infolge des Polizeimordes an Nahel Merzouk

Luc Śkaille, Bure

Ein Polizist erschießt einen Jugendlichen aus einer Plattensiedlung nahe Paris. Nächtelange Unruhen, Plünderungen, Brände und ein Großaufmarsch von rund 50.000 Ordnungskräften. Weitere Tote, hunderte Schwerverletzte und unzählige (Schnell-)Urteile – vor allem gegen junge Menschen aus den Vorstädten der Metropolen … Mit den Aufständen im Frühsommer 2023 könnte das Gefühl erweckt werden, es sei in Frankreich „Alles beim Alten“. Doch die Politiken Macrons sind kaum noch mit einem ausgelutschten „es verbessert sich ja nichts“ zu kritisieren. Es wird immer offensichtlicher, dass sich die gesellschaftliche Situation in Frankreich im Zuge des neoliberalen Zerschlagungseifers des letzten Jahrzehnts massiv verschlechtert hat und immer größere Teile der Bevölkerung eine Konfrontation mit dieser Regierung nicht nur akzeptieren sondern für existenziell halten.
Nachdem der Afghanistan-Veteran und Motorradpolizist Florian Menesplier am 27. Juni den 17-Jährigen Nahel Merzouk bei einer Verkehrskontrolle in Nanterre aus nächster Nähe erschossen hatte, entlud sich die Wut in einer bisher nicht dagewesenen Heftigkeit. Die einwöchigen Proteste nach Nahels Tod schockierten Teile der Öffentlichkeit mit über 1.000 angezündeten Gebäuden (darunter mehr als 200 Polizeiwachen), knapp 6.000 ausgebrannten Fahrzeugen und zahllosen Plünderungen. Entsprechend hart reagierten die Behörden und erstmals seit den Aufständen von 2018 patrouillierten Sondereinheiten von BRI, GIGN, CRS8 und RAID in Frankreichs Straßen. An dutzenden Orten wurden moderne Polizeipanzer und Drohnen eingesetzt. Das Klima des Aufstands schlug binnen weniger Tage in ein Klima der Angst um. Zahlreiche Medien halfen bei einer massiven, oftmals rassistischen Stigmatisierung der Proteste.
Dem bereits als paternalistisch wahrgenommenen Staat fiel nichts Besseres ein, als die „schlechte Erziehung“ der Jugendlichen in Verbindung mit der Drohung von Kürzungen sozialer Bezüge der „verantwortlichen“ Familien auf den Plan zu rufen. Zugleich sammelten rechtspopulistische Hetzer hunderttausende an Euro für die Familie des Mörderpolizisten. Nachdem es eine Handvoll an Ermittlungen gegen beteiligte Beamte und sogar Untersuchungshaftstrafen gab, begannen ganze Einheiten zu streiken. Nach wenigen Tagen waren mit offiziell 3.651 Festnahmen mehr Protestierende verhaftet worden als während der fast vierwöchigen Aufstände von 2005 und dem Mord an Zyed und Bouna.
Spätestens seit Mathieu Kassovitz Spielfilm „La Haine“ vor fast dreißig Jahren erschien und dem rechtspopulistischen Präsident Sarkozy, der den „Abschaum mit dem Kärcher“ auszumerzen gedachte, ist die Ungerechtigkeit und die meist ungestrafte Polizeigewalt über Frankreichs Grenzen hinaus bekannt. Die Phänomene von Rassismus und Polizeigewalt, gepaart mit der Perspektivlosigkeit zahlreicher BewohnerInnen der oftmals prekären Vorstädte, sind Ausdruck einer chronisch scheiternden Sozialpolitik. Zugleich wecken sie Erinnerungen an das koloniale Erbe der „Grande Nation“, dessen Folge über die Jahrzehnte immer wieder mit Waffengewalt gelöst werden sollte, und nie ernsthaft aufgearbeitet wurde. Doch die „Aufstände von Nanterre“ sind Ausdruck einer Schieflage, die sich nicht so einfach mit einer Schubladeneinordnung „Phänomen Banlieue-Aufstand“ kategorisieren lassen. Die antidemokratische Ausrichtung der französischen Politik in jüngerer Zeit, sollte spätestens seit der rechts-offenen Transformation der Sozialdemokratie unter Hollande substanzielle Zweifel am „Land der Menschenrechte“ nähren, auch jenseits der „Banlieues“.
In den vergangenen Jahren haben sich Todesfälle durch Polizeigewalt in Frankreich im Vergleich zu den 2010er Jahren verdoppelt. Plätschernde Antiterrorgesetzgebungen, die Lockerung des Schusswaffengebrauchs und das „Separatismusgesetz“ von 2021 haben eine Handhabe begünstigt, die immer mehr Menschenleben kostet und soziale Bewegungen, wenn möglich mit Tränengas, und wenn es sein muss, mit Blei ersticken. Die jüngsten Unruhen und deren Niederschlagung folgten auf jene der Gelbwesten (2018/19), zwei gescheiterten Bewegungen gegen die Rentenreform 2020 und 2023, einer Welle von Vereinsverboten (2021-23) und dem Angriff auf die Umweltbewegung „soulèvements de la terre“ (2023). Mit der regelmäßigen Anwendung von Notstandsparagraphen und der entsprechenden Umgehung parlamentarischer Vertretung hat die laufende Ära Macron soziale Gräben vertieft und das Misstrauen in den Zentralstaat ausgebaut.
Auch wenn die segregative Stadtplanung und die Abwesenheit öffentlicher Dienste eine strukturelle und indiskutable alltägliche Gewalt, sowie ein Grundhindernis für gesellschaftliche Teilhabe der BewohnerInnen der Vorstädte darstellen, ist die Enttäuschung gegenüber der staatlichen Institutionen längst kein Spezifikum der „Banlieues“ mehr. Immer größere Teile der Bevölkerung Frankreichs sind mittlerweile von den multiplen Krisen des Spätneoliberalismus betroffen, sei es in Bezug auf die Zerschlagung von Bildungs- und Gesundheitswesen, steigende Lebenshaltungskosten, Mangel an Wohnraum oder die aktuelle Energiekrise.
Die bewegte und sehr gewaltsame Episode im Vorsommerloch dürfte kurzfristig vor allem in Sachen Zensur, Überwachungstechnik, polizeilicher Aufrüstung und Verfahrensbeschleunigung Spuren hinterlassen. Der Aufstand zeigt jedoch auch, dass weder die eiserne Hand von Innenminister Darmanin noch das autoritäre Durchmarschieren der Regierungscheffin Borne den sozialen Frieden in Frankreich per Dekret herbeiwünschen können.
Unabhängig der Orientierung, die die sozialen Bewegungen in Frankreich nehmen, werden die „Banlieues“ weiterhin Hotspots intersektionaler Benachteiligung bleiben. Das Verhältnis zum Staat ist hier am greifbarsten zerrüttet – deren Repräsentanten sind verhasst. Trefflich resümiert die Aussage eines Polizisten im Film „Les Misérables“ des Produzenten Ladj Ly das Problem einer rein repressiven Polizeistrategie in den Vorstädten. „Sie respektieren euch nicht. Sie haben Angst vor euch“. Aber die Marschrichtung der Macronie scheint eine Demokratisierung der Furcht im Schilde zu führen. Noch vor wenigen Jahren wurde sich vonseiten der französischen Politik öffentlich von Zensur und Gewalt autoritärer Regime distanziert. Empört blickte Mann nach Ägypten, Tunesien oder Syrien. Mit mahnenden Worten und handfesten Drohungen sollten Diktatoren zur Wahrung von Menschenwürde und dem Aufbau demokratischer Strukturen gedrängt werden. Diese Zeiten sind nun vorbei. Frankreich ist in zwei Jahrzehnten schrittweise vom „Land der Menschenrechte“ zum Musterbeispiel für den Rückbau von Freiheitsrechten geworden. Und es gibt keinen Anlass zu glauben, dass der autoritäre Führungsstil in näherer Zukunft einen Knick bekommt. Der Ausbau des Polizeistaates geht voran, während neue Recherchen von Mediapart weitere Übergriffe im Zuge der Aufstände belegen.
Das Innenministerium erhielt für den nächsten Haushalt einen Zuschlag von 15 Milliarden Euro und soll innerhalb von zehn Jahren die Polizeipräsenz auf der Straße „verdoppeln“. Das von Macron im vergangenen Winter eingeführte Scheinbeteiligungsformat CNR (Nationaler Neubegründungsrat) soll sich im Oktober mit den Konsequenzen der Aufstände befassen. Der Umstand, dass Premierministerin Borne am Tag nach dem CNR ein neues Gefängnis eröffnet und Macron jüngst den Aufbau von 239 neuen Gendarmerieeinheiten verkündete, wird die Glaubwürdigkeit der Initiative kaum zu steigern vermögen. Intellektuelle und Bürgerrechtsverbände fordern stattdessen eine breite Debatte und eine Aufklärung der Umstände der Unruhen und der Polizeigewalt als Grundlage für eine Suche nach Gerechtigkeit. Doch anstatt einen glaubhaften Dialog zu fördern, bleibt der Staat bei einer einzigen Antwort: „Repression gegen jene, die unsere Interessen gefährden“.
Erste solidarische Mobilisierungen von Vereinen, Bürgerrechtsorganisationen und Gewerkschaften brachten am 23. September mehrere zehntausend Menschen in Solidarität mit den Opfern der Staatsgewalt auf die Straße. Ein Zeichen, was zwar spät kommt, aber immerhin die Frage der Abwehr der Entdemokratisierungstendenzen und wachsender sozialer Ungerechtigkeit in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rückt – und dies auch in Spektren, die von der tödlichen Polizeigewalt nicht so direkt betroffen sind, wie eben jene Bewohner und Bewohnerinnen der Vorstädte. Die Zerschlagung sämtlicher Proteste seit Beginn der ersten Macron-Legislatur empört weit über die Ränder der Gesellschaft hinweg. Nicht nur bei Amnesty International, der Menschenrechtsliga oder den Vereinten Nationen hat die französische Exekutive Bedenken generiert. Die ausufernde Arroganz der Mächtigen, die zwischen königlichen Staatsbanketts in Versailles und Buhrufen im Stade de France ein Image der Überlegenheit auszubauen versuchen, missfällt über die Staatsgrenzen hinaus. Da die neoliberale und autoritäre Reformpolitik der Ex-Sozialdemokraten um Macron immer konkretere Konsequenzen für die Freiheitsrechte haben und außerdem eine Autobahn für die Nazis um Marine Le Pen darstellen, wird die französische Gesellschaft zum Zusammenrücken gezwungen.