MANIFEST zur Abschaffung von Strafanstalten und anderen Gefängnissen (1)

gefaengnisseelsorge.net/manifest

1. Abolitionismus ist die radikale Ablehnung als menschenunwürdig erkannter Institutionen
Historisch betrachtet hat eine abolitionistische Haltung ihren Ausdruck in der Forderung nach Abschaffung von Praktiken und Institutionen gefunden, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verächtliches, ein wertloses Wesen ist.
Exemplarisch hierfür standen und stehen z.B. Forderungen nach Abschaffung der Sklaverei, der Folter oder der Todesstrafe, deren vollständige oder teilweise Beseitigung uns ermutigt, eine weitere Institution in dieses abolitionistische Bestreben einzubeziehen. Das vorliegende Manifest konzentriert sich auf den Strafvollzug in Gefängnissen, stellt aber auch die Strafe als solche in Frage (2).

2. Strafanstalten sind abzuschaffen
Der Freiheitsentzug in Gefängnissen stellt eine ebenso unnötige wie menschenunwürdige Einrichtung dar. Die Forderung nach Abschaffung von Strafanstalten wird daher seit längerem und zunehmend häufig auch in Deutschland erhoben (3).

Zu den wichtigsten Begründungen für diese Forderung gehören die Folgenden:

  • der Aufenthalt in Strafanstalten verletzt elementare Menschenrechte der Gefangenen (Zwangsarbeit, Zwangsenthaltsamkeit, Zwangsarmut etc.);
  • darüber hinaus sind Strafanstalten kontraproduktiv, indem sie zur Abstempelung der darin untergebrachten Menschen (als gefährlich, unbrauchbar, nicht vertrauenswürdig etc.) beitragen;
    sie haben unerwünschte Nebenfolgen (Mitbestrafung von Dritten, insbesondere Kindern und Partnern/Partnerinnen, gesundheitliche Beeinträchtigungen etc.);
  • der Vollzug verschärft die Lebenslagen, in die die Gefangenen entlassen werden (Arbeitsplatzverlust; Wohnungsnot; soziale Deklassierung etc.);
  • Strafanstalten fördern die Illusion, dass durch die Einsperrung Einzelner Kriminalität reduziert oder gar die Lösung gesellschaftlicher Probleme befördert werden könne.

3. Mit dem Abbau muss sofort begonnen werden
Die Abschaffung der Strafanstalt ist ein Langzeitprojekt, mit ihrem Abbau kann und muss jedoch sofort begonnen werden. Als Einstieg bieten sich bestimmte Arten der Freiheitsstrafe und bestimmte Formen ihres Vollzuges an, zum Beispiel:

  • die Ersatzfreiheitsstrafe ist so schnell wie möglich und ersatzlos abzuschaffen. Die Vollstreckung von Geldstrafen kann ausschließlich zivilrechtlich erfolgen
  • der Strafvollzug bei Minderjährigen ist abzuschaffen. Er ist durch Maßnahmen der Jugendhilfe zu ersetzen
  • die lebenslange Freiheitsstrafe ist als eine unmenschliche Behandlung zu erkennen und abzuschaffen (und durch zeitige Freiheitsstrafe zu ersetzen)
  • geschlossene Formen des Vollzuges sind grundsätzlich durch offene zu ersetzen
  • verbleibende Formen des geschlossenen Vollzuges sind, im Sinne des Angleichungsgrundsatzes, so lebensnah wie möglich auszugestalten (z.B. Wohnhäuser anstelle von Zellengefängnissen).

4. Andere Arten von Gefängnissen sind ebenfalls abzubauen
Freiheitsentzug ist auch für andere Zwecke als den der Bestrafung so weit wie möglich zu vermeiden. Gegen andere Gefängnisse sprechen vielfach die gleichen Argumente wie bei Strafanstalten. Vor allem gilt es zu verhindern, dass Strafanstalten unter anderen Bezeichnungen fortleben („Maßregelvollzug“; „Sicherungsverwahrung“, „Administrativhaft“ etc.). Zu fordern ist daher auch

  • Abschaffung der Abschiebungshaft
  • weitergehende Vermeidung von Untersuchungshaft (z.B. durch die Ermöglichung von sozialen Bürgschaften u.Ä.).
  • Einführung einer gesetzlichen Vermutung der Ungefährlichkeit zur Reduzierung von Precrime Unterbringung (Forensik, Sicherungsverwahrung).

5. Alternativen für den Umgang mit „Kriminalität“ sind vorhanden
Unter dem Begriff „Kriminalität“ finden sich höchst unterschiedliche Formen gesellschaftlich unerwünschten Verhaltens. Die Reaktion darauf muss diesen Unterschieden Rechnung tragen (4) und darf nicht aus dem Blick verlieren, dass es sowohl legislativ als auch justiziell um selektive Prozesse der Kriminalisierung geht. In manchen Fällen bietet sich ganz generell eine Regulation der Materie außerhalb des Strafrechts an (so etwa im gesamten Drogenbereich, bei Schwarzfahren und Ladendiebstahl etc.). Aber auch dort, wo die Verhängung einer Freiheitsstrafe noch für nötig gehalten wird, muss die Vollstreckung zugunsten sinnvoller Zwecke ausgesetzt werden können. Und zwar unabhängig von der Länge der verhängten Freiheitsstrafe. Zum Beispiel:

  • Arbeitsvermittlung statt Strafe
  • Ausbildung statt Strafe
  • Betreutes Wohnen statt Strafe
  • Bewährungshilfe statt Strafe
  • Therapie statt Strafe
  • Versicherung statt Strafe
  • Versöhnung statt Strafe
  • Wiedergutmachung statt Strafe.

6. Strafe muss nicht sein, Freiheitsstrafe erst recht nicht
Letztlich wäre die Entwicklung alternativer Verfahrensformen (Restorative Justice, Transformative Justice) hilfreich.
Um den Bedürfnissen von Opfern sowie Täterinnen und Tätern besser als bisher Rechnung zu tragen, sind Gefängnisse nicht erforderlich.

Fußnoten

(1) Vorbild ist das Manifest von Livio Ferrari/Massimo Pavarini: No Prison Manifesto (in sieben Sprachen). Das vorliegende Manifest ist die thesenhafte Kurzfassung eines Aufsatzes, den Johannes Feest und Sebastian Scheerer unter dem Titel „No Penitentiaries“ in dem Sammelband No Prison, hrsg. von Massimo Pavarini/Livio Ferrari, Capel Devi 2018, veröffentlicht haben. In die Formulierung sind Anregungen aus mehreren Diskussionen mit Gleichgesinnten eingegangen. Endredaktion: Johannes Feest.

(2) Zum internationalen Stand vgl. Michael Coyle/David Scott (Hrsg.) International Handbook of Penal Abolitionism. Routledge, Taylor, Francis 2020.

(3) Johannes Feest: Ist Freiheitsentzug als Sanktionsmaßnahme im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß? Vortrag anlässlich der 300-Jahrfeier der JVA Waldheim. In: Sächsisches Staatsministerium der Justiz (Hrsg.) Vollzug für das 21. Jahrhundert. Baden-Baden: Nomos 2019, 33.
Thomas Galli: Die Schwere der Schuld. Berlin 2016; Ders. Die Gefährlichkeit des Täters. Berlin 2017; Ders.: Ein Gefängnisdirektor packt aus. Berlin 2019.
Rehzi Malzahn (Hrsg.) Strafe und Gefängnis. Theorie, Kritik, Alternativen. Eine Einführung. Stuttgart: Schmetterling-Verlag 2019.
Klaus Roggenthin: Das Gefängnis ist unverzichtbar! Wirklich? In: Informationsdienst Straffälligenhilfe, 26. Jg., Heft 1/2018, 20-31.
Sebastian Scheerer: Abschaffung der Gefängnisse. In: Kriminologisches Journal 3/2018, 167-177.
Werner Nickolai: Plädoyer zur Abschaffung des Jugendstrafvollzugs. In: Marcel Schweder (Hrsg.) Handbuch . Beltz/Juventa:
Weinheim und Basel 2015, 817-827.
Johannes Feest/Bettina Paul: Abolitionismus. Einige Antworten auf oft gestellte Fragen. In: Krim J 2008, 6-20.
Karl Schumann/Heinz Steinert/Michael Voß (Hrsg.) Vom Ende des Strafvollzugs. Bielefeld 1989.
Helmut Ortner (Hrsg.) Freiheit statt Strafe. Plädoyer für die Abschaffung der Gefängnisse. Frankfurt 1981.

(4) Thomas Galli: Plädoyer für eine Neuordnung des Strafrechts mit sanfter Vernunft. Vortrag auf dem Strafverteidigertag 2018.
Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge (Hrsg.): Zur Zukunft des Gefängnissystems. Hannover 2017.
Christine M. Graebsch/Sven-Uwe Burkhardt: Vergleichsweise menschlich? Ambulante Sanktionen als Alternative zur Freiheitsentziehung aus europäischer Perspektive. Wiesbaden: Springer 2015.
Helmut Pollähne: Alternativen zur Freiheitsstrafe. In: Dokumentation des 36. Strafverteidigertages, hrsg. Vom Organisationsbüro des Strafverteidigertages, 2013.
Gaby Temme: Braucht unsere Gesellschaft Strafe? Welche Alternativen gibt es im Vergleich zum deutschen Strafvollzugssystem?. In: Jens Puschke (Hrsg.) Strafvollzug in Deutschland. Berlin 2011, 37-61.
Henning Schmidt-Semisch: Kriminalität als Risiko. Schadensmanagement zwischen Strafrecht und Versicherung. München 2002.