Musa Aşoğlu
Zum Artikel von Ron Augustin hinsichtlich des bewaffneten Kampfes der RAF und der Geschichtsschreibung, welcher in der 409. Ausgabe des Gefangenen Infos abgedruckt war:
Die Geschichtsschreibung ist die Schilderung des Klassenkampfes. Darin geht es um die Geschichte der Klassen. Und jede Klasse hat die Möglichkeit, ihre eigene Geschichte zu erzählen und niederzuschreiben. Heute wird die Geschichte des Klassenkampfes von den herrschenden Klassen und den Geschichtspodien der Universitäten geschrieben sowie von den ihnen nacheifernden kleinbürgerlichen Schichten, die der verlängerte Arm der herrschenden Klassen sind. Diese stehen uns manchmal mit dem Etikett des „Geschichtsschreibers“ und manchmal als Investigativjournalisten und ähnlichem gegenüber.
Wir dürfen nicht vergessen: Geschichte ist eine Schilderung des Klassenkampfes, der mit dem Blut der Völker geschrieben wird. Und dies erfordert eine entsprechende Verantwortung. Es erfordert, dass man sich den gesamten Zeitabschnitt mit all seinen positiven und negativen Aspekten mit ernsthafter Kritik und Selbstkritik zu eigen macht. Nur eine revolutionäre Bewegung, die die Verantwortung für diesen Zeitabschnitt des Klassenkampfes in Deutschland und die Geschichte der RAF in dieser Phase übernimmt, kann dies niederschreiben. Das heißt, dass die Geschichte nicht von Menschen geschrieben werden kann, die über Tinte oder einen Computer verfügen, sondern von Menschen die ihr Blut aufs Spiel setzen. Jeder andere Anspruch drückt nichts weiteres als eine Spekulation und Geschichtsverdrehung aus.
Wie der Verfasser erklärt, sind die drei Beispiele über Ansprüche der Geschichtsschreibung, die in dem Artikel genannt werden, nichts weiter als Verdrehung und es ist unnötig, darüber zu diskutieren. Aber dem Verfasser des Artikels untergeht ein Fehler, indem er das Problem der Geschichtsschreibung auf ein methodisches Problem reduziert. Und indem er den besagten Artikel der Amsterdamer Universität unterbreitet und schildert, mit welcher Methodik die Niederschreibung der Geschichte der RAF verfasst werden könne, erwartet er die wissenschaftliche Niederschreibung der Geschichte der RAF von den „offiziellen“ Historikern der Herrschaft. Dabei handelt es sich nicht um ein methodisches Problem, sondern hängt mit dem Klassenkampf und den Klasseninteressen zusammen.
Geschichtsschreibung stellt weder ein methodisches Problem dar, noch ist sie ein Mittel der Huldigung oder Verurteilung. Wer keinen Anspruch für die Revolution hat, kann kein Anwärter hierfür sein.
Es gibt heute auch welche, die einen Lobgesang auf die RAF singen. Aber auch diese sind weit davon entfernt, die RAF zu verteidigen. Denn ihr Lobgesang besteht ausschließlich daraus, die für sie selbst positiv erscheinenden Seiten der RAF für ihre eigenen Ideen und die eigene Organisierung zu benutzen. Erst wenn das Ganze einschließlich seiner negativen, positiven, falschen und richtigen Aspekte dargelegt und daraus die historische Verantwortung übernommen wird, ist es von Bedeutung. Sonst ist die Verteidigung und Kritik der RAF belanglos.
Um die Geschichte der RAF niederschreiben zu können, muss zuerst eine detaillierte Auswertung vorgenommen werden. Um das machen zu können, muss klar sein, was die RAF ist und was sie nicht ist. Vereinfacht kann gesagt werden, dass die RAF mit dem Anspruch, eine revolutionäre Bewegung zu werden, entstanden ist. Nach der Inhaftierung ihrer Kader, hat sich die Form ihrer Aktionen und ihr militärisch-technisches Profil angehoben. Nach einiger Zeit haben sie gesehen, dass das Führen des Klassenkampfes auf diesem Niveau subjektiv betrachtet einen hohen Preis erfordert. Wir können festhalten, dass die RAF eine Bewegung ist, die nicht in der Lage war, das ins Auge zu fassen. Somit lösten sie sich auf und kapitulierten.
Natürlich bedeutet Kapitulation nicht nur die Hände in die Luft zu strecken. Es bedeutet auch nicht offene Kollaboration oder Reue. Welche Rechtfertigung dem auch zugrunde liegen mag; das Beenden des eigenen politischen Daseins ist eine Kapitulation. Es ist ein politischer, ideologischer und militärischer Bankrott; eine Niederlage. Zudem bedeutet die Auflösung einer Organisation in einem Kampf, der Gefallene gefordert hat, über die militärische Niederlage und Beseitigung hinaus eine Untreue gegenüber den Gefallenen und deren Erinnerung. Objektiv betrachtet ist es eine Untreue gegenüber den Verstorbenen.
Keine Bewegung kann sich mit einer Gründungserklärung bilden und mit einer Auflösungserklärung enden. Die Gründung der RAF geht auf eine Geschichte zurück, die auf der Niederlage der Revolutionäre zur Zeit Hitlers beruht. Sie ist an die Bedingungen geknüpft, die die Protestbewegung ´68 entstehen haben lassen. Das heißt, dass sie nicht dadurch entstanden ist, weil einige Gründungskader das so beschlossen haben. Auch wenn sie politisch-ideologisch vom Sozialismus beeinflusst gewesen ist, war sie keine ideologisch klare Bewegung. Eine Organisation ist allem voran zunächst eine ideologische Einheit. Und weil diese Einheit nicht etabliert werden konnte, endete sie mit einer Auflösungserklärung. Einer der Gründe dieser Auflösung war auch ihre Marginalisierung durch den Verlust der Massendynamik, die sie zur Zeit ihrer Gründung besaß. Die Marginalisierung wurde zudem durch die politische, ideologische, polizei- und geheimdienstliche Repression durch den Deutschen Staat begünstigt. Aber das sind externe Gründe, die nur begrenzt eine Rolle spielen. Das eigentliche Problem geht aus dem organisatorischen Verständnis hervor. Im Gegensatz zu ihrer anfänglichen Entwicklung haben sie sich bewusst für eine Kaderorganisation entschieden, die Legalität verurteilt und sich somit von den Massen und der Bevölkerung entfernt. Diese gehören zu den wichtigsten Faktoren, die zu ihrer Marginalisierung beigetragen haben. Die Grundlage der Taktik des Low Intensity Conflict (L.I.C.; Konflikt niedriger Intensität), die als Bekämpfungsmethode von Volksbefreiungsbewegungen dient, zielt auf die Vernichtung der Organisation durch ihre Marginalisierung ab. Ein falsches und unrealistisches Verständnis von einer Untergrundorganisierung, die sich von der Bevölkerung entfremdet, die Massenbewegung von oben herab betrachtet und als legalistisch verurteilt, dient den Zielen der L.I.C.-Taktik.
Dieses Verständnis von Untergrundorganisierung führte dazu, dass sich die RAF zu einer focoistischen (Foco-Theory/Fokus-Theorie; an die kubanische Revolution angelehnte, voluntaristische Revolutionstheorie; Anm. d. Übers.) Organisation entwickelte. Vielleicht hatte es zu Beginn ein solches Ziel nicht gegeben. Aber insbesondere nach der Gefangennahme der führenden Kader reduzierte sie die kompletten Klassenauseinandersetzungen auf die Befreiung ihrer gefangenen Kader. Das egozentrische Verständnis, das sich in dieser Phase entwickelte, führte durch die immer weiter vorantreibende Entfremdung von der Bevölkerung zum Verlust der revolutionären Dynamik. Schließlich geriet sie physisch ins Abseits des Klassenkampfes und an den Rand der Selbstauflösung und Kapitulation.
Das Niederschreiben der Geschichte der RAF müssten jene übernehmen, die sich trotz allem der diese Tradition erschaffenden Bewegung sowie der im Kampf Gefallenen bedingungslos annehmen und eine offene und seriöse Selbstkritik üben, indem sie die Verantwortung für die Fehler und Defizite übernehmen. Es ist nicht unbedingt erforderlich, damals eine organisatorische Bindung gehabt zu haben, um Selbstkritik üben zu können. Auch jene, die damals noch nicht geboren waren, sind dazu verpflichtet, diese Selbstkritik zu üben. Denn der Klassenkampf wird nicht geführt, weil es irgendwer so möchte. Denn die Basis jeglichen Widerstands und jeglichen Aufstands, der sich im Verstand der Bevölkerung und der Revolutionäre abzeichnet, stellen „jene vor uns“, das historische Erbe und das Geschichtsbewusstsein dar. Aus soziologischer Sicht ist es erforderlich, sich dieses Erbes und dieses Geschichtsbewusstseins anzunehmen. Und das kann nur durch ideologische Klarheit gewährleistet werden. In dieser Hinsicht verfügt die globale, revolutionäre Bewegung über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz. Bezüglich Fragen wie „weswegen wurden Niederlagen erlitten und wie schafften es einige, auf den Beinen zu bleiben“, gibt es viele Erfahrungen.
An erster Stelle dürfen die Lehren aus diesen Erfahrungen weder einfach und oberflächlich schöngeredet noch vollkommen ignoriert werden. Andernfalls würde jede neue Erfahrung den Versuch einer neuen Erfahrung darstellen und im Experimentieren zugrunde gehen.
Zur Zeit der RAF gab es in Deutschland keine revolutionäre Situation, die es erforderlich gemacht hätte, den bewaffneten Kampf als grundlegende Kampfform zu wählen. Der bewaffnete Kampf ist kein Gradmesser dafür, wie revolutionär man ist. In Deutschland gibt es sogar heute etliche Grundlagen für den demokratischen Kampf. Das heißt, dass es keine Voraussetzung ist, die damaligen Organisierungs- und Kampfmethoden zu übernehmen, um die Vergangenheit zu verteidigen.
Ich weiß nicht, wie richtig es ist, die Zeit in erste, zweite und dritte Generation einzuteilen, wenn von der Geschichte der RAF geredet wird. Einzig eine Organisation und ihr Verständnis können eine solche Zeiteinteilung vornehmen, um periodische Unterschiede aufzuzeigen.
Auch wenn aus Sicht von Außenstehenden Unterschiede bemerkbar sind, so sollte einzig und allein die Organisation selber darüber entscheiden. Und da sie selber bisher diese Generationsunterschiede nicht gemacht haben, um ideologische Defizite aufzuzeigen, so muss das respektiert werden. Diese Generationsunterschiede beziehen sich generell eher auf Kampfform und -ziele. Sie sind kein entscheidender Faktor für die politische Identität. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, die Geschichte der RAF in solchen Kategorien zu schildern. Es ist falsch.
Die Basis für die Selbstauflösung und den Rückzug aus der Kampfarena liegt in dem Glauben, die erforderlichen Opfer durch Reduzierung des Konfliktes zu umgehen. Der eigentliche Mangel und Fehler liegt in der Änderung von Form und Inhalt des Kampfes sowie der Aktionsziele. Da der Klassenkampf auf die Befreiung der RAF-Führungskader begrenzt wurde, gelangte man an den Punkt, die Verbindung zur Bevölkerung zu verlieren. Denn das ist nicht das Hauptproblem der Bevölkerung und der Arbeiterklasse. Geiselnahme und direkte Aktionen gegen Vertreter von Staat und Kapital dienten dazu, die Gefangenen vor ihrer Ermordung zu bewahren. Die Aktionen nach dem Tod der Gefangenen dienten dazu, Rechenschaft zu fordern. Sie entwickelten sich in eine Art Schlagabtausch, der die Massen und die Klassenwidersprüche nicht mehr auf der Tagesordnung hatte. Und so kam die Marginalisierung zustande, die das Ende bringen sollte.
Natürlich gibt es an dieser Stelle noch etwas, was vergessen wird. Die Diskussion um den Tod der Gefangenen wurde auf der unfruchtbaren Debatte um Mord oder Selbstmord ausgeliefert. Sei es Mord oder Selbstmord; das Gefängnis ist der Ort, wo der Staat über am meisten Macht verfügt. Und dort ist der Staat sowieso für jeden Tod verantwortlich. Und der Grund dafür, dass sogar heute noch diese Diskussion geführt wird und die Bevölkerung nicht überzeugt werden kann, liegt in dieser Marginalisierung.
Das Anheben des Grades der Auseinandersetzung führt immer zu bestimmten Ergebnissen. Wenn die Legitimität des Kampfes nicht gewährleistet werden kann, verstärkt der Staat seine Gewalt und seine Willkür. Während zum einen Geiselnahmen und Bestrafungsaktionen zur Gefangenenbefreiung durchgeführt wurden, so ist offensichtlich, dass zum anderen die politischen Gefangenen, welche Geiseln in den Händen des Staates waren, über keinerlei Sicherheit verfügten. Der Tod der Gefangenen hingegen hatte einen Schockeffekt zufolge, der heute noch anhält. Warum? Weil während auf der einen Seite ein bewaffneter Kampf geführt wurde, so glaubte man auf der anderen Seite an die Existenz einer bürgerlichen Demokratie. Es kam nicht einmal in den Sinn, dass die Bourgeoisie demokratische Methoden überschreiten könnte. Allein diese Situation zeigte auf, dass es keine Notwendigkeit für einen bewaffneten Kampf gegeben hatte. Gefangenschaft und Tod sind natürliche Ergebnisse des Klassenkampfes. Der wirkungsvollste Kampf dagegen liegt in der Stärkung der Legitimität des Kampfes, welche zu Gefangenschaft und Ermordung führt. Das heißt, dass es notwendig ist, die demokratischen Forderungen der Arbeiterklasse noch mehr zu stärken.
Geschichtsschreibung kann nicht mit Auflistung chronologischer Daten, Quellenangaben bei Zitaten, Analyse gesellschaftlicher Entwicklung oder im Rahmen von Recht und Unrecht als ein Methodologie-Problem angegangen werden.
Wenn die Geschichte der RAF betrachtet wird, dann müssen auch die Niederlage der deutschen Linken und der revolutionären Bewegung gegen Hitler sowie die Probleme und Sackgassen in der Zeit danach mitbewertet werden. Den Klassenkampf nur in Waffen und im bewaffneten Kampf zu sehen, stellt nur eine Dimension der Verehrung von Macht dar. Diese Sichtweise der RAF haben auch andere linke Organisationen mit anderen weiteren Schwächen. Die Ereignisse beim Zerfall des Ostblocks zeigen ebenfalls die Resultate der Verehrung von Macht. Sogar heute ist die Anzahl von deutschen Linken, die glauben, dass Revolutionen mit der politischen und militärischen Hilfe der USA möglich sind, nicht zu unterschätzen. Zum einen die Verehrung von Macht und zum anderen machiavellistische Zweckmäßigkeit. All diesen politischen Abweichungen liegen ideologische Abweichungen und Unsicherheiten zugrunde.
Insbesondere die Gründe jener, die sich für die Selbstauflösung der RAF entschieden haben, müssen ernsthaft unter die Lupe genommen werden. Wohingegen diese heute versuchen, sich hinsichtlich der zu ihrer Zeit durchgeführten Aktion hinter einem Mythos zu verstecken, wonach sie „keine Spuren hinterlassen“ hätten, ein „technisch hohes Profil“ gehabt hätten und „ nicht fassbar“ gewesen seien. Somit versuchen sie, sich der Kritik und der Rechenschaft zu entziehen. Natürlich sind der Selbstauflösungserklärung bestimmte schriftliche Begründungen zu entnehmen. Aber sicher gibt es auch ungeschriebene Gründe. Jede Organisation kann das Recht besitzen, seine Kampfform zu kritisieren und sie zu verändern. Aber dann muss sie ihre alte Kampfform hinterfragen und verurteilen. Nun, wer hat die abgelegte Kampfform begonnen und wer wurde verurteilt? Falls das Problem bei den Gründungskadern der RAF liegt, so muss auch das Thema offen behandelt werden.
Es gibt auch „menschliche“ Begründungen, hinter die man flüchten kann – wie jene, dass es um die Freilassung der Gefangenen gegangen sei. Aber werden die Toten und speziell die Ermordeten eine solche Chance haben? Selbstverständlich werden sie diese nicht haben. Somit ist die Entscheidung hinsichtlich der Beendigung des Kampfes ein Akt der Reue und der Kapitulation. Zudem bleibt die Frage, welche Kampfform an die Stelle der alten Kampfform getreten ist. Auch das ist nicht passiert. Und deswegen geht es nicht, sich hinter dem Mythos zu verstecken, das man „nicht fassbar“ gewesen sei. Es handelt sich um einen Kampf, der viele Gefallene und Tote gefordert hat. Dieser kann nicht überdeckt werden, um sich sicher vor der Polizei wähnen zu können und um nicht gefasst zu werden. Denn heute kommt eine Schlussfolgerung wie diese hervor: „Die Toten sind aufgrund der falschen Kampfform gestorben.“
Natürlich liegt die Verantwortung dafür, Klarheit zu verschaffen, zunächst bei jenen, die die Organisation und den Kampf beendet haben. Das heißt, dass dort die Niederschreibung der Geschichte der RAF beginnen müsste. Auch wenn sie diese Zeit nicht in all ihren Ebenen offenlegen, so werden die neuen Generationen, die diese Geschichte niederschreiben werden, an erster Stelle mit einer ernsthaften Kritik an der Auflösung beginnen.
Das Recht auf Kritik und auf das Niederschreiben der Geschichte liegt nicht bei jenen, die lediglich Fehler und Mängel feststellen oder sich hinter Lobgesängen verstecken, sondern bei jenen, die einen revolutionären Anspruch haben und entschlossen sind, die Wahrheit zu finden und das Richtige zu tun.