Dies ist der vierte Teil unserer Reihe zur Thematik „Institution Psychiatrie mit seinen Ausläufern“.
Wir wollen uns in diesem letzten Part unseres Vierteilers genauer ansehen, welche Alternativen es gibt zur Institution Psychiatrie. Einerseits richten wir den Blick auf heute und gehen noch auf eine bekannte Bewegung aus der Vergangenheit ein.
Ein interessanter Ansatz möglicher Hilfestellungen bei psychischen Erkrankungen ist der der AK Psychiatriekritik aus Berlin (gegründet 2010), der mit einem Workshop mit der Thematik „radical peer support“ 2012, zum ersten Mal nach außen trat.¹
Ein wichtiger und sehr interessanter Punkt ihres Selbstverständnisses lautet:
„Da wir vom psychiatrischen System als einer Macht ausgehen, die in der Gesellschaft insgesamt wirksam ist, sehen wir alle Menschen als von diesem (potentiell) beeinflusst. Stationäre Psychiatrie birgt das größte Gewaltpotenzial und wird im psychiatrischen System stets als Option offen gehalten, doch eine ambulante Therapie kann ebenfalls zu einschneidenden Erfahrungen führen. Zugleich kann beides auch individuell positiv erlebt werden.“²
In bereits erwähntem Workshop, mit dem sie zum ersten Mal an die Öffentlichkeit herantraten, standen Überlegungen im Mittelpunkt, was denn alternativ in Krisensituationen von Menschen angeboten werden kann. So kann zum Beispiel in einem engeren Umfeld der Betroffenen über Wünsche der Begleitung in möglichen Krisensituationen gesprochen werden. Dies sollte auch getan werden, bevor diese auftreten. Es ging maßgeblich darum, was unterstützende Personen anbieten können, ohne über ihre eigenen Grenzen zu schreiten und was den betroffenen Personen hilft, dies zu konkretisieren und zu verschriftlichen, um dann im Falle eines Falles darauf zurückgreifen zu können.
Oberstes Ziel sei nicht, Krisen möglichst schnell zu überwinden, um im Alltag wieder funktionieren zu können, sondern das Wohlergehen der betroffenen Person. Dies fordert natürlich eine enge Zusammenarbeit im kollektiven Kontext, mit Personen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Dies wurde unter dem Kernanliegen des Arbeitskreises erarbeitet, welches beinhaltete, alternative Handlungsoptionen und Räume in der radikalen Linken zu schaffen, sowie existierende leistungsorientierte Dynamiken zu hinterfragen.
Zwei Kernfragen lauteten: „Wie kann sich eine Bewegung, die sich als für Diskriminierungsmechanismen sensibel darstellt, so wenig um das gegenseitige Wohlbefinden kümmern? Andererseits: Wie kann eine Kritik aussehen, die nicht moralisch aufgeladen daherkommt, oder vorhandene gesellschaftliche Zwänge verharmlost, die im alltäglichen Überleben solidarisches Handeln stark erschweren?“³
An dieser Stelle möchten wir nochmal erwähnen, dass wir den Ansatz dieser Gruppe sehr interessant finden, da sie sich um praktische Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen in psychischen Krisensituationen interessiert und diese in der radikalen Linken anstößt bzw. einfordert.
Nun zu einer historisch sehr bekannten Bewegung und Psychiatriekritik:
Die sogenannte Antipsychiatriebewegung dürfte in linken Kreisen ein Begriff sein, im Zuge dazu auch das SPK – Sozialistisches Patientenkollektiv – Aus der Krankheit eine Waffe machen.
In Heidelberg hat sich im Jahre 1970 das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) gegründet.
Das sozialistische Patientenkollektiv hat die These vertreten, dass Krankheit Voraussetzung und Resultat der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist. Ihre Aussage war, dass die Psychiatrie versuche, die Patienten tauglich für die krankmachende Gesellschaft zu machen, deshalb müsse aus der Krankheit eine Waffe gemacht werden.
Als Ausgangspunkt der Arbeit des Sozialistischen Patientenkollektiv galten die Bedürfnisse der Patientinnen.
Außerdem ist das SPK empirisch lediglich von drei Tatsachen ausgegangen:
1. Es gibt die kapitalistische Gesellschaft, es gibt Lohnarbeit und Kapital.
2. Es gibt Krankheit und unbefriedigte Bedürfnisse, d.h. die reale Not und das Leiden der Einzelnen.
3. Es gibt die Kategorie der Geschichtlichkeit, die Kategorie der Produktion; oder – noch allgemeiner gesagt – es gibt die Kategorie der Zeit, der Veränderung und des Werdens.4
Eine der Kernaussagen des SPK war, dass Gesundheit ein absolut bürgerlicher Begriff sei, welcher als durchschnittliche Norm gilt und die Ausbeutbarkeit der Ware Arbeitskraft festsetzt. An dieser Stelle habe das Gesundheitswesen die Aufgabe diese Norm zu erhöhen sowie die nicht mehr der Norm entsprechenden Arbeitskräfte auszusondern und möglichst kostensparend aufzubewahren. Gesund sein heißt somit ausbeutbar sein.
Aus dieser Sicht heraus hat das SPK die Parole entworfen „aus der Krankheit eine Waffe machen“, denn wer krank ist nützt dem Kapitalismus nichts, wodurch jede/r Kranke selbst als Waffe gesehen werden kann.5
Unser Fazit:
Wir sehen die These des SPK und die Parole „aus der Krankheit eine Waffe machen“ als so nicht mehr aktuell an.
In den 60ern mag es gestimmt haben, dass man aus der Krankheit eine Waffe machen konnte, auf heute allerdings ist dies so nicht mehr übertragbar. Je kränker die Leute sind, desto mehr Medikamente verschrieben werden können, desto mehr Kapital kann aus ihnen geschlagen werden. Für die Pharmaindustrie ist dies das beste, was passieren kann. Das Ziel ist mittlerweile eher, dass die Leute krank gemacht und gehalten werden.
Medikamente sind reine Symptombekämpfung, es geht nicht um eine Heilung und nicht um die Lebensfähigkeit oder das Wohlergehen der Menschen. Aus der Krankheit wird Profit gemacht, das ist Fakt.
Wir denken, dass die Thematik der Psychiatrie bzw. Antipsychiatrie von den Linken maßgeblich vergessen ist und dass es nach wie vor noch kein ausgereiftes Konzept gibt, wie mit den betroffenen Menschen umzugehen ist.
Für uns ist Bezugsarbeit mit den psychisch erkrankten Menschen ein wichtiger Punkt. Es ist klar, dass Psychiatrie ein Repressionsinstrument ist und als solches nicht tragbar ist, allerdings kann das Problem nicht gelöst werden, in dem wir alle Psychiatrien von heute auf morgen schließen und die Menschen ihrem Schicksal überlassen werden.
Es sollten alternative Schutzräume angeboten werden können, in denen sich die Menschen wohl fühlen und sich erholen können. Etwa kleinere Wohneinheiten, die von reflektierten professionellen Helferinnen betreut werden und wo das Wohlergehen und die Heilung bzw. das Finden eines guten Umgangs mit der Krankheit im Mittelpunkt stehen.
Quellennachweis:
Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie.
Cora Schmechel, Fabian Dion, Kevin Dudek, Mäks* Roßmöller (Hg.), 1. Auflage
August 2015, Münster.
SPK. Aus der Krankheit eine Waffe machen. Eine Agitationsschrift. Vorwort von
J.-P. Sartre. Trikont Texte. 1. Auflage1972, München.
Anmerkungen
¹ Vgl.: Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie.
² S. 289, unterer Abschnitt. Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie.
³ ebenda, S. 290, oberer Abschnitt. Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie.
4 Vgl.: Trikont Texte, SPK – aus der Krankheit eine Waffe machen. Eine Agitationsschrift. S.8/9
5 Vgl: Trikont Texte, SPK – aus der Krankheit eine Waffe machen. Eine Agitationsschrift. S.13