„Der 2. Juni 1967 hatte eine sehr zentrale Funktion“

Ein Radiointerview mit Karl-Heinz Roth über den 2. Juni 1967, welches am 2. Mai 2017 auf Radio Flora im Rahmen der Sendung “Wieviel sind hinter Gittern” ausgestrahlt wurde.

Sendung „Wieviel sind hinter Gittern“

Radio: Wir wollen uns mit dem 2. Juni 1967 beschäftigen. Vor knapp 50 Jahren wurde der Student Benno Ohnesorg in West-Berlin auf einer Demonstration gegen den Schah von Persien erschossen. Ich habe jetzt Karl-Heinz Roth in der Leitung, der damals schon politisch aktiv war. Du hast damals nicht in Berlin gelebt. Du bist Jahrgang 1940, warst damals Medizin-Student und hast in Bonn gelebt.
Karl-Heinz Roth: Ja, ich war schon lange vorher politisiert worden. Meine erste individuelle Revolte fand bereits 1961 in der Bundeswehr statt, als ich dort als Wehrpflichtiger eingezogen worden war und bemerkte, dass das dort eine nach-nazistische Armee war. In den Jahren danach war ich in verschiedenen linken Filmclubs aktiv. Mehr gab es damals nicht. 1965 bin ich in den Kölner SDS eingetreten. Dann bin ich von Köln nach Bonn gewandert und schließlich im Sommer 1967 in Düsseldorf gelandet. Dort gab es damals noch keine Universität, sondern nur eine medizinische Hochschule. Dort gründete ich eine SDS-Hochschulgruppe und wurde prompt mit einem Relegationsverfahren konfrontiert.
Am 2. Juni war ich also in Düsseldorf. Ich kam von irgendeiner Vorlesung und da kam die Nachricht von der Ermordung Benno Ohnesorgs in Berlin. Wir haben sofort eine spontane Demonstration organisiert, an der mehrere hundert Menschen teilgenommen haben. Am nächsten Tag folgte eine noch größere Demonstration und für uns war klar, dass nach all den Entwicklungen der letzten Jahre, wo sich eine linke, außerparlamentarische Opposition mit dem SDS zunehmend als Kern gebildet hatte, etwas besonderes geschehen war, dass dann auch entsprechend beantwortet werden musste. Das begann dann.

Radio: Ich muss nochmal nacherläutern. Der SDS ist der Sozialistische Deutsche Studentenbund, was die Nachfolgeorganisation der Studierenden in der SPD war und Anfang der 60er Jahre rausgeschmissen worden war. Mit der nazistischen Armee meinst du, dass sehr viele Generäle der Nazi-Wehrmacht damals in der Bundeswehr tätig waren?
Karl-Heinz Roth: Nein, es war einfach ein Nazi-Geist. Als wir zum ersten Mal Scharschießen am Maschinengewehr hatten in der Grundausbildungseinheit, da sagte der Offizier, der das Ganze leitete, wir solllten so gut zielen wie er damals, als er 1942 als MG-Schütze in einer Nacht 82 Ivans umgelegt hätte. Das waren also sehr konkrete, handfeste Erfahrungen. In diesem Fall handelt es sich um einen Hauptmann, aber es gab viele andere solcher Ereignisse. Das war nicht nur die Generalität. Die Armee war post-nazistisch.

Radio: Ok, dann ist der Begriff auch klar, weil ich den auch nicht so umfassend gesehen hatte, wie du. Der 2. Juni war ja dann sozusagen doch eine zweite Geburt, wie das der ehemalige RAF-Gefangene Rolf Heissler damals gesagt hatte. Es hat sich ja dann für dich und für euch sehr viel geändert. Du bist dann irgendwann nach Hamburg gegangen und hast dort studiert. Und es hat dann doch eine Radikalisierung und viele Veränderungen gegeben. Ich selbst war damals 16 oder 17 und Lehrling. Kannst du vielleicht schildern, wie diese Politisierung gelaufen ist.
Karl-Heinz Roth: Ja, also da hatte der 2. Juni, und damit hast du Recht, eine sehr zentrale Funktion. Für uns als Aktivisten und Aktivistinnen, die also schon länger dabei waren, in diesem Fall ja schon über zwei oder sogar drei Jahre, war das insofern ein Einschnitt, als wir merkten, dass wir für das, wofür wir einstanden, mit dem Leben bezahlen könnten und müssen, wenn es darauf ankommt. Also dass wir von der Staatsmacht angegriffen werden und dass die tatsächlich dann auch zum politischen Mord auf der Straße schreiten. Das war eine eingreifende Erfahrung, die uns alle sehr geprägt hat und die den inneren Kern der damaligen Bewegung radikalisiert hat. Dazu kam dann natürlich die breite Massenmobilisierung. 14 Jahre vorher war ja schon mal ein Jugendlicher auf offener Straße ermordet worden – der kommunistische Jugendliche Philipp Müller bei einer Anti-Widerbewaffnungsdemonstration. Damals führte das zur totalen Resignation, zum totalen Zusammenbruch und zu einer weitgehenden Einschränkung der in Gang gekommenen Friedensbewegung, der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung. Der 2. Juni war genau das Gegenteil. Da kamen dann die Lehrlinge, da kamen plötzlich die Studierenden der Ingenieursschulen. Da kam etwas in Gang, was über die damals schon entstandene Außerparlamentarische Opposition hinausging. Und in diesem Umfeld haben wir uns bewegt. Diesen Radikalisierungsprozess haben wir vorangetrieben. Wir haben gegen die Nazi-Professoren an den Universitäten revoltiert, die es ja damals noch sehr wohl gab. Wir waren ja als Studierende damals sehr wohl noch mit den alten Nazi-Intellektuellen konfrontiert. Und das war dann ein Prozess, der tatsächlich zu einer breiten Sozialrevolte geführt hat und zu dem, was man die verspätete Entnazifizierung und Demokratisierung, wie beschränkt sie dann im Ergebnis auch immer war, der BRD bezeichnen kann.

Radio: Ich kann vielleicht noch etwas ergänzen. Ich habe das ja auch verfolgt, eher am Fernseher, in den Medien. Und was mich dann auch sehr gestört hat, war eben die Diffamierung. In meinem Elternhaus wurde gesagt, die haben ja selber schuld, wenn sie auf die Straße gehen. Das kam ja auch in der Springer-Presse so rüber. Die Springer-Presse hat ja eine ganz große Rolle ge-spielt. Auch die Aufklärung war ja ganz klar; es war der Polizist Kurras, der verteidigt und in mehreren Verfahren freigesprochen wurde. Für mich war es einfach so, dass ich in der Schule gelernt hatte, dass die Demokratie die höchste Staatsform ist. Aber wenn ich oder wir in der Realität diese Rechte in Anspruch genommen haben, die wurden uns dann sozusagen aberkannt.
Karl-Heinz Roth: Ja, das war die Verlogenheit dieses Systems, dass sich also sozusagen nach der Re-Education durch die West-Alliierten formal demokratisiert hatte, im Kern aber überhaupt noch nicht demokratisch war. Wie immer man die Entwicklung danach beurteilen will, es entstand dann so etwas wie eine demokratische Grundströmung in der BRD und die ist tatsächlich ein Ergebnis der Revolte, das muss man auch sehen. Die Revolte ist ja letzlich gescheitert, aber sie hat langfristig doch zu einer sehr tiefgreifenden Veränderung der Gesellschaft geführt, auch wenn sie zu der von uns damals sehr schnell erhofften sozialistischen Umwälzung nicht geführt hat.

Radio: Das ist ein anderer Punkt. Wichtig war glaube ich, es wurden nicht nur die Studierenden und Intellektuellen, sondern auch die junge Generation, die Subkulturellen, die Leute aus den Heimen – siehe “Bambule” von Ulrike Meinhoff – und sehr viele Menschen angesprochen. Iran war ja nur der eine Punkt. Es gab ja damals Informationen im Vorfeld, u.a. eben auch Texte von Ulrike Meinhof und Baham Nimuhand, die sozusagen den Blick aufs Ganze gerichtet haben.
Karl-Heinz Roth: Ja, und es gab vor allem natürlich auch die breite Massenbewegung gegen den Vietnam-Krieg. 1967 wurden wir Teil einer internationalen Bewegung, die die Desertion der GI‘s mitunterstützt hat. D.h. wir kamen dann ganz schnell und sehr konkret und handfest natürlich in einen Internationalismus hinein, der auch gar nicht harmlos war. Wir haben dann schließlich die GI‘s über die dänische Grenze geschleust und das war keine Banalität mehr. D.h. wir wurden ganz schnell und plötzlich mit den wirklichen Realitäten des Systems konfrontiert, und zwar international.

Radio: Ein Aspekt vielleicht noch, weil ich damals auch in Hamburg lebte. Als du damals zum SDS gegangen bist, hattest du ein Verfahren wegen Verstoß gegen die Bannmeile und bist dann auch eine Zeit nicht angetreten. Du warst aber trotzdem immer auf öffentlichen Versammlungen, wir nannten das damals Teach-In‘s fahren. Vielleicht kannst du das nochmal erwähnen, wo du auch gewisse Regeln ganz praktisch hinterfragt hast.
Karl-Heinz Roth: Ja, das war Anfang Mai 1968. Da hatte ich schon eine ganz große Liste von zum größten Teil absurden Ermittlungsverfahren u.a. deshalb, weil wir also natürlich immer ganz bewusst die Bannmeile um das Hamburger Rathaus durchbrochen haben. D.h. wir haben uns einfach nicht daran gehalten oder wir haben Sit-Ins im Bahnhof gegen den Vietnam-Krieg gemacht. Dann kam die Bahnpolizei, verstärkt durch Sondereinheiten usw., hat uns angegriffen und vertrieben. Wir haben wieder Sit-Ins gemacht und sehr früh wurden dann unter der Regie der Springermedien und -Presse die sogenannten Rädelsführer, also die Sprecherinnen und Sprecher, besonders intensiv von der Polizei angegriffen. Aber, wie wir es ja dann Ostern 1968 erlebt haben, auch von einem neofaschistischen Attentäter, der Rudi Dutschke niedergeschossen hat. Es gab also eine zunehmende Kriminalisierung. Ich hab mich entzogen, nachdem ich Anfang Mai festgenommen worden war und dann nach der Inhaftierung einige Tage später wieder freigelassen wurde bis zum Verfahren. Als dann die Aussetzung des Haftbefehls widerrufen wurde, bin ich untergetaucht. Und da entstand dann – ich glaube das dauerte acht oder neun Monate – eine Situation, in der ich dann bei allen großen Manifestationen, Demos, Teach-Ins usw. aufgetreten bin und damit natürlich die Polizei und Ordnungssystematik etwas durcheinander gebracht habe. Das war dann ein persönlicher Protest, der sehr ambivalent war und sich am Ende wieder aufhob. Ich hab mich dann gestellt und wurde dann auch wieder freigelassen. Ich wurde auch Nutznießer der sogenannten Heinemann-Amnestie 1969. Ich hatte wie Tausende eine Liste von Verfahren anhängig wegen schweren Landfriedensbruchs usw. Wir hätten niemals mehr unser Studium abschließen können. Dann kam diese völlig unvorhergesehene Amnestie und wir haben schnell unser Abschlussdiplom gemacht. Und dann ging es aber weiter. Wir haben uns nicht angepasst.

Radio: Das ist richtig. Du warst später auch nochmal im Knast. Wir können das nicht viel weiterführen. Wichtig ist, dass die 67/68er Revolte viele Menschen aus der Generation – meine Person eingeschlossen – geprägt haben. Dass wir hier sitzen und unser Interview führen, wäre ohne diese Revolte nicht möglich. Es gibt zumindest Ansätze, wo versucht wird, es mit den Protesten von G20 zu verbinden, weil die Verhältnisse in den letzten 50 Jahren nicht besser geworden sind. Wir erhoffen eine neue Revolte und einen neuen Aufbruch. Vielleicht kannst du zum Schluss noch etwas dazu sagen.
Karl-Heinz Roth: Die Ausgangsbedingungen sind heute völlig anders und die heutige nachgewachsene Generation – es ist ja inzwischen schon die zweite, denn ich bin heute ja schon weit über 70 – ist mit anderen Situationen und Lebensbedingungen konfrontiert. Ganz alltäglich beispielsweise mit prekären Arbeitsverhältnissen. Das ist etwas, was wir damals in den 60er Jahren überhaupt nicht kannten. Du hast studiert und dann hast du dich irgendwo beworben und wurdest angestellt. Die Situation hat sich also dramatisch verändert und die junge Generation von heute muss ganz andere Antworten finden auf diese alltägliche Situation. Aber die Revolte ist notwendig. Ich hoffe, dass die IT-Sucht, dass die I-Phone-Sucht, dass die zunehmende Abhängigkeit von dem, was wir theoretisch die technologische Gewalt des Kapitals genannt haben, irgendwann aufgebrochen wird und dass es dann auch zu einer neuen Perspektive kommt, in die dann vielleicht auch ein wenig unsere Erfahrungen von damals mit eingehen können.

Radio: Das war ein schönes Schlusswort Karl-Heinz. Ich bedanke mich, viele Grüße und vielleicht bis zum nächsten Mal. Tschüss.
Karl-Heinz Roth: Auf jeden Fall, Tschüss.