Der Fall Kenan Ayas und die kollektive Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung

Kenan Ayaz
Kenan Ayaz

von Esther Zaim

Seit Juni 2023 ist Kenan Ayas (bürgerlich: Kenan Ayaz), der nach dem Paragraf 129b StGB, welcher eine Gründung einer kriminellen und terroristischen Vereinigung im Ausland besagt, in der Untersuchungshaftanstalt Hamburg am Holstenglacis inhaftiert. Die Umstände seiner Anklage und Inhaftierung in Deutschland haben einen langen juristischen Vorlauf und sind eng verzahnt mit bilateralen und politischen Verhandlungen des türkischen Staates mit der EU. Denn zurzeit hängt der NATO-Beitritt Schwedens von der Abstimmung und der Ratifizierung durch das türkische Parlament ab. Die türkische Regierung als einer der größten Abnehmerinnen deutscher Rüstungsgüter weiß indessen diese Umstände auch als Türsteher Europas in Bezug auf Migrationsbewegungen als politisches Erpressungsmaterial zu nutzen, um die Strafverfolgung kurdischer Aktivist*innen in Europa voranzutreiben. Der Vorwurf der AKP-Regierung Erdoğans an Schweden äußert sich darin, dass mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der PKK (kurdisch: Partiya Karkerên Kurdistanê, dt.: Arbeiterpartei Kurdistans) juristisch zu lasch umgegangen werde. Europa befindet sich somit in einer Position der Bittstellerin und bemüht sich in einem hohen Maße, das AKP-Regime durch entgegenkommende Angebote milde zu stimmen. Im Schatten dieser geplanten NATO-Erweiterung begeht die Türkei ungeahndet schwerste Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in kurdisch besiedelten Gebieten. Jedoch finden diese militärischen Belagerungen und Massaker an der Zivilbevölkerung in Europa keine Schlagzeilen. Zeitgleich wird die kurdische Bevölkerung mit Repression und Kriminalisierung überzogen und es wird exemplarisch versucht, sie medial und staatlich in der Gesamtgesellschaft zu ächten. Willkürliche polizeiliche Hausdurchsuchungen und Razzien in kurdischen Vereinen, behördliche Einschränkungen und Verhinderungen von Demonstrationen, sowie Abschiebungs- und Sorgerechtsentzugsandrohungen für kurdische Aktivist*innen und politisch Verfolgte stehen an der Tagesordnung in diesem System der Einschüchterung des vermeintlichen Rechtsstaates Deutschland.

Kenan Ayas lebte seit 2013 im griechischen Teil von Zypern und hat eine von brutaler staatlicher Repression geprägte Biografie. Bereits im Alter von 18 Jahren wurde er gemeinsam mit seinem 13-jährigen, jüngeren Bruder von der türkischen Polizei verhaftet und grausamster Folter in Haftanstalten in der südlichen Türkei sowie im Buca-Gefängnis in Izmir unterzogen. Aufgrund seiner kurdischen Identität und seinem politischen Aktivismus gegen die faschistoiden, türkischen Regierungen saß er 12 Jahre in türkischen Knästen und musste schwerste psychische und physische Gewalt ertragen. Ayas‘ Geschichte ist die einer Jahrhunderte andauernden Kontinuität der Unterdrückung und systematischen Gewalt an Kurd*innen, Alevit*innen, Assyrer*innen, Jezid*innen und weiteren ethnischen und religiösen Minderheiten der Levante und Mesopotamiens durch die Aggression imperialer Staaten, wie dem Osmanischen Reich und der späteren türkischen Republik.
Von großen Protesten und einer breiten Solidaritätsbewegung in Zypern begleitet, wurde das Auslieferungsgesuch der deutschen Generalbundesanwaltschaft von den zypriotischen Behörden stattgegeben, Ayas im März 2023 in Larnaka festgenommen und nach dreimonatiger Inhaftierung an die deutschen Strafverfolgungsbehörden überstellt. Das am Oberlandesgericht (OLG) Hamburg geführte Strafverfahren wirft ihm die Mitgliedschaft in der PKK vor, in dessen Strukturen er verschiedene Führungspositionen in Norddeutschland besetzt haben soll. Die Anklagepunkte beinhalten keinerlei Beweise auf verübte Gewalttaten seitens Ayas. Vielmehr geht es in dem Strafverfahren um organisatorische Betätigungen und Reden für pro-kurdische Kundgebungen und Demonstrationen und dem Organisieren von Lautsprecherwagen. Des weiteren soll Ayas zwischen 2018 und 2020 in engem Kontakt mit Personen gestanden haben, die für die deutschen Sicherheitsbehörden als Anhänger*innen der PKK gelten und somit als Mitglieder einer „ausländischen terroristischen Vereinigung“ einzuordnen seien.
Dabei sind derlei Gerichtsverfahren nach dem Paragraf 129b in der BRD keine Seltenheit und veranschaulichen den langen Arm der türkischen Regierung gegen die kurdische Befreiungsbewegung, der in das vermeintlich freiheitliche demokratische, deutsche Justizsystem eingreift. Zurzeit laufen über zehn dieser Prozesse an deutschen Oberlandesgerichten, teils mit noch anhängigen Verfahren und teils schon abgeurteilten.
Der im Fall Kenan Ayas Anfang November 2023 am Hamburger OLG begonnene Prozess folgt hierbei bekannten Mustern. So sind von der Staatsanwaltschaft in den Zeugenstand geladene Personen Mitarbeiter der deutschen Landesämter für Verfassungsschutz und Beamte des Bundeskriminalamts. Alle mehr oder weniger vertraut mit den Akten und der vorangegangenen Überwachung und Observation von Kenan Ayas. Auch ein Sachverständiger mit Expertise in dem Themenbereich Kurdistan und der Türkei ist zur Verhandlung vorgeladen. In den bisherigen Verhandlungsterminen fiel es auf, dass die Beweislast aus den Aussagen der Zeugen äußerst wackelig und zweifelhaft erscheint, eben keine stichhaltigen Beweise für kriminelle Handlungen und Betätigungen von Ayas vorliegen, sondern eher aus Mutmaßungen und Hypothesen bestehen. Vielmehr erscheint die Beweisaufnahme wie eine Veranschaulichung aufwendiger und akribischer technischer Überwachung des Angeklagten durch das Bundeskriminalamt, um krampfhaft den Vorwurf krimineller Aktivitäten zu erzeugen und zu bekräftigen. Auch scheint die Methodik und Praxis, wie sogenannte Quellen und Informant*innen agieren, die den Angeklagten belasten, dem Verfassungsschutz zugänglich gemacht werden undurchsichtig. Sicher und auch offen zugegeben von den Strafverfolgungsbehörden wird, dass Informant*innen und Vertrauenspersonen Geldsummen für erbrachte Auskünfte und Belastungen erhalten. Starke Zweifel müssen aus vielerlei Hinsicht bestehen bleiben, denn ob der Wahrheitsgehalt dieser Informationen mit behördlichem Druck und Androhung von Strafverfolgung entsteht, bleibt im Unklaren. Hervorstechend ist bei den Vernehmungen der BKA- und Verfassungsschutzbeamten das ausgeprägte Aussageverweigerungsrecht, auf das beinahe bei jeder zweiten Nachfrage des Gerichts bezüglich Ayas oder Informant*innen zurückgegriffen wird. So wird es für die Öffentlichkeit immer abstrakter und fragwürdiger, was dem Angeklagten vorgeworfen wird, wenn nicht mal der vorsitzenden Richterin dienst internes Wissen von BKA und Verfassungsschutzämtern zugänglich gemacht wird. Der Charakter eines Schauprozesses müsste sich spätestens für Beobachter*innen bei dieser willkürlichen und schwammigen Beweisaufnahme festigen.
Rund um den Prozess von Kenan Ayas hat sich seit seiner Festnahme in Zypern dort ein breites Bündnis von internationalen Menschenrechtsbeobachter*innen und Prozessbegleiter*innen namens kenanwatch (kenanwatch.org) gegründet. Hier wirken internationale Anwält*innen, Journalist*innen, Abgeordnete und Angehörige verschiedenster Berufsgruppen für eine solidarische Begleitung politischer Gefangener. Auf der Website wird Aufklärungsarbeit betrieben, sowie die Verhandlungssitzungen protokolliert und aktuelle themenbezogene Veranstaltungen und Solidaritätsaktionen für Ayas bekanntgegeben. Auch das Solidaritätskomitee „Free Kenan“ mobilisiert die Öffentlichkeit zur Prozessbegleitung in Hamburg und veranstaltet Kundgebungen und Infoveranstaltungen zum Thema. Die besondere zypriotische Solidarität und Verbundenheit zur kurdischen Bevölkerung resultiert sehr stark aus dem parallelen Befreiungskampf gegen die seit 1974 herrschende türkische Besatzung Nordzyperns und dem Tod und der Verschleppung zehntausender Zypriot*innen durch das türkische Militär.

Kindheit in Unfreiheit

Ayas, der in dem kleinen Dorf Halaxe in der südöstlichen Provinz Mardin auf türkischem Staatsgebiet geboren wurde, war seit seiner Kindheit dem Staatsterror der Türkei ausgesetzt und musste in diversen Haftanstalten über lange Jahre schwerste Folter erleiden. Anfang Dezember 2023 verlas er während eines Verhandlungstermins seine sehr berührende Prozesserklärung, worin all die Diskriminierungen und menschenrechtsverachtenden und zutiefst verstörenden Angriffe auf seine Person und auch sein familiäres und soziales Umfeld geschildert werden. So beschreibt er die erdrückenden gesellschaftlichen und staatlichen Zwänge der türkischen Staatsdoktrin gegenüber kurdischem Leben. Dass schon kleinen Kindern in der Vorschule das Sprechen der kurdischen Sprache untersagt wurde und bei Missachtung dieser Vorgabe wie in Ayas‘ Fall schwere Prügel durch die Lehrkräfte zu erleiden waren, standen für Millionen kurdischer Kinder an der Tagesordnung. Auch herrschte ein Denunziant*innentum, worin türkische Mitschüler*innen die kurdischen Schüler*innen maßregeln und an Lehrkräfte melden sollten. Der Versuch, die gesamte kurdische Identität mit ihrer Sprache, ihren Bräuchen und ihrer Kleidung aus dem öffentlichem Leben und auch aus der Geschichte zu löschen, war ein staatlich forcierter Vorgang und wurde behördlich zielgerichtet umgesetzt. So beschreibt Ayas in seiner Erklärung: „Es ist eine bittere Konsequenz, dass Kurdinnen und Kurden, die um ihre Existenz kämpfen und Widerstand leisten, als Terroristen bezeichnet werden. Wenn sie aber nicht für ihre Rechte eintreten und schweigen, wird ihnen noch Schlimmeres widerfahren. Das ist genau die Situation, in der man in der Falle sitzt oder in die Falle getappt ist. Den Kurdinnen und Kurden wird weder Politik, noch Kampf, noch Frieden zugestanden. Es ist sehr schwer, als Kurde zu leben. Kurz gesagt, das kurdische Volk ist ein unschuldiges Volk unter der Hegemonie von Nationalstaaten, das durch zahlreiche Massaker, Besatzung, Kolonialisierung, Assimilation, Genozid und Zwangsintegration in einem Umfeld ständiger Kriege an den Rand der Auslöschung gebracht wurde.“ Im weiteren Verlauf beschreibt er die zugespitzte Lage im Jahr 1993, welches eine besondere Zäsur für die kurdische Bevölkerung auf türkischem Staatsgebiet in der jüngsten Geschichte darstellt: „Fast 4.000 kurdische Dörfer wurden niedergebrannt und zerstört. Millionen Dorfbewohner wurden ohne jede rechtliche Grundlage zwangsumgesiedelt. Das Jahr 1993 war ein Jahr zwischen Leben und Tod für Millionen von Kurdinnen und Kurden, die ohne irgendetwas von ihrem Hab und Gut mitnehmen zu können ins Exil geschickt wurden. Ihr Besitz, ihr Eigentum, ihre Häuser und Felder wurden geplündert und an die Dorfschützer übergeben. In den übrigen Dörfern und Städten wurden die Lebensmittel rationiert, was offiziell als Lebensmittelembargo bezeichnet wurde, und die Lebensmittel wurden unter Aufsicht verteilt. Tausende von Menschen wurden von Dorfschützern, der JİTEM und der Hizbullah ermordet. Tausende Menschen wurden in Säurebrunnen geworfen. Tausende Menschen wurden brutal auf der Straße ermordet, mit der Schweinefessel getötet und in Kellern begraben. Tausende von Menschen wurden offen in Gewahrsam ermordet. Zehntausende von Menschen wurden ohne Anklage inhaftiert. Sie wurden für lange Jahre inhaftiert. Die Staatssicherheitsgerichte verwandelten sich in eine Bestrafungsmaschine. In den Augen dieser Gerichte waren alle Kurdinnen und Kurden Terroristen und mussten ausgerottet werden. Sie wurden automatisch zu langen Haftstrafen verurteilt.“ Die gesamte Erklärung kann hier nachgelesen werden: https://anfdeutsch.com/aktuelles/prozess-gegen-kenan-ayaz-ein-bewegender-tag-40573

Ayas Hintergrund und Biografie scheint die deutsche Justiz leider wenig zu interessieren, da sie gut darin beraten sind, den türkischen Interessen Gehorsam zu leisten, um diplomatisch-politische Beziehungen auf EU-Ebene nicht zu gefährden und die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Kurd*innen als gegenwärtigen Zustand zu erhalten. Der Prozesstermine findet ab 9.30 am Oberlandesgericht Hamburg statt.