Samidoun heißt standhaft (Teil 1)

Bundeskanzler Olaf Schulz hat am 10.10.2023 gefordert, das palästinensische Gefangenensolidaritätsnetzwerk Samidoun zu verbieten. Diese Forderung wurde von Bundesinnenministerin Nancy Faeser ein paar Stunden später bekräftigt und das Verbotsverfahren wurde in die Wege geleitet. Am 02.11.2023 trat das Verbot in Kraft und knapp zwei Wochen später am 17.11.2023 folgten die Razzien. Auslöser dafür: Samidoun hätte in Berlin nach der AI-Aqsa Flut Operation am 07.10.2023 „Terrorismus bejubelt“.
Was steckt dahinter? Wie sah die Lage vor dem Verbot aus? Was ist am 07. Oktober passiert? Wieso wurde Samidoun in Deutschland verboten? Und welche Auswirkungen kann man in der Solidaritätsbewegung in Deutschland sehen? Als ehemaliges Mitglied von Samidoun Deutschland werde ich versuchen, diese Fragen in einer Reihe von Beiträgen zu beantworten. In diesem ersten Teil wird das Samidoun Netzwerk vorgestellt, und die Lage vor dem 07. Oktober in Deutschland und weltweit bezüglich der Repression und Verbotsversuche erklärt.

Wer ist Samidoun?
Das palästinensische Gefangenensolidaritätsnetzwerk Samidoun wurde 2011 als Webseite gegründet, auf der die Nachrichten und Stellungnahmen der palästinensischen Gefangenenbewegung in verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurden. Im Laufe der Jahre haben sich 23 Ortsgruppen in 13 Ländern gegründet, die die Stimmen der palästinensischen Gefangenen in zehn Sprachen erheben. Mit den Ortsgruppen hat sich die Arbeit von Samidoun entsprechend weiterentwickelt und Solidaritätsaktionen wie Demonstrationen, Kundgebungen, Kampagnen und Vorträge in Solidarität mit den palästinensischen Gefangenen wurden zu einem Kernelement der täglichen Arbeit des Netzwerks.
Die Sache der Gefangenen ist sowohl für das palästinensischen Volk als auch für die zionistische Besatzung von enormer Bedeutung. Seit der Nakba 1947-1948 wurden mehr als 1 Million Palästinenser inhaftiert. In der West-Bank, wo Palästinenser mit willkürlichen Militärbefehlen verhaftet werden, haben mehr als 40% aller palästinensischen Männer mindestens einmal in den Gefängnissen der Besatzung gesessen. Heute sind mindestens 8500 Palästinenser inhaftiert, davon ca. 400 Kinder, 200 Frauen, und 3500 unter Administrativhaft (Haft ohne Prozess oder Gerichtsverfahren). Das lnhaftierungssystem der Besatzung, die Militärgerichte, Administrativhaft, Isolation, Folter und medizinische Vernachlässigung werden zu genüge dokumentiert und analysiert. Samidoun bringt diese brutale Realität, aber auch die heldenhaften Geschichten von Widerstand, Ausbrüchen, Solidarität, Hungerstreiks und Organisierung in den Gefängnissen der internationalen Öffentlichkeit in vielen Sprachen nahe.
Als Mitbegründer der „Revolutionären Alternativen Palästinensischen Pfad“-Bewegung, Masar-Badil, welche 2021 gegründet wurde, teilt Samidoun die politische Analyse und das Verständnis basierend auf der „palästinensischen Nationalcharta“ von 1968 über die Befreiung Palästinas vom Fluss bis zum Meer. Es erkennt die Legitimität und Notwendigkeit des bewaffneten Widerstands sowie das Rückkehrrecht für alle palästinensischen Flüchtlinge an und lehnt das Osloer Abkommen und die Palästinensische Autonomiebehörde, die als Arm der zionistischen Besatzung in der West-Bank arbeitet, klar ab.
Ziel der Bewegung ist es, die palästinensische Diaspora wieder in den Kampf für Befreiung und Rückkehr einzubinden, nachdem sie infolge des Osloer Abkommens isoliert und ausgegrenzt wurden. Diese Ausgrenzung fand durch mehrere Methoden statt. Eine der wichtigsten davon ist die Zerstörung der Institutionen, die die palästinensischen Flüchtlinge organisierten und repräsentierten. Somit ist der Wiederaufbau der palästinensischen Gewerkschaften, Studierendenunionen, Frauen- und Jugendorganisationen, Forschungszentren, etc. essenziell.
Der internationalistische Aspekt des palästinensischen Kampfes soll unter einem revolutionären Verständnis wiederbelebt werden, welches die Besatzung als ein koloniales Projekt in den Diensten imperialistischer Interessen sieht und den Kampf des palästinensischen Volkes als den eines kolonisierten Volkes gegen seine Unterdrücker betrachtet. Die internationalen fortschrittlichen und revolutionären Bewegungen müssen ihre unterbrochenen Verbindungen zum palästinensischen Kampf wiederherstellen und ihre zentrale Rolle in der Pro-Palästina-Bewegung zurückgewinnen, die heute von staatlich geförderten NGOs dominiert wird, die staatliche Narrative und Interessen vertreten.
In Samidoun Deutschland haben wir mit diesem Verständnis bewusst gearbeitet. Im laufe der Jahre konnten wir im Rahmen unserer Arbeit für die palästinensische Gefangenen die Stimme der palästinensischen und arabischen Gemeinschaft erheben und gleichzeitig Verbindungen zu linken und revolutionären Strukturen in ganz Deutschland aufbauen. Mit dieser Mischung hat Samidoun Deutschland eine wichtige Rolle in der Entwicklung einer pro-palästinensischen Bewegung mit kompromisslosen Positionen gespielt.

Repression kommt selten allein
Samidoun wurde in den vergangenen Jahren in Deutschland immer wieder angegriffen. 2019 wurden die internationale Koordinatorin Charlotte Kates und ihr Mann Khaled Barakat aus Berlin ausgewiesen. Zwei Jahre später, im Februar 2021 wurde Samidoun vom israelischen Verteidigungsminister und Kriegsverbrecher Benny Gantz auf die israelische „Terror-Liste“ gesetzt [1]. Internationale Basisorganisationen auf Terrorlisten zu setzen, ist eine Standardtaktik der Besatzung, mit der viele Organisationen weltweit konfrontiert sind. Diese Taktik verschafft den internationalen zionistischen Akteuren effektive Propaganda-Munitionen. Direkt nach diesem Angriff der Besatzung wurde Samidoun in westlichen Medien als Terrororganisation bezeichnet, obwohl es weder in USA noch in der EU verboten war.
Drei Monate später, im Mai 2021, hat der damalige Frankfurter Bürgermeister Uwe Becker (CDU) Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) dazu aufgefordert, Samidoun zu verbieten [2]. Im Bundestag haben die großen Parteien Samidoun für ihre eigene politische Profilierung genutzt: von DIE LINKE, zu FDP, CDU/CSU, bis hin zur AfD [3-6]. Abgeordnete dieser Parteien stellten Anfragen an die Bundesregierung bezüglich angeblicher Verbindungen zwischen Samidoun und der PFLP. Verleumdungskampagnen und Aufrufe zur Kriminalisierung von Samidoun von zionistischen Organisationen und dem israelischen Botschafter wurden ein wiederkehrendes Thema [7, 8]. Demonstrationen und Kundgebungen zum Nakba-Tag, Tag der Palästinensischen Gefangenen und Al‑Quds-Tag wurden in Berlin 2022 und 2023 verboten [9-11].
Ein Wendepunkt in Bezug auf die Fähigkeit des Staates, seine repressiven Taktiken schnell und reibungslos auf pro-palästinensische Bewegungen anzuwenden, war die im November 2022 abgehaltene Innenministerkonferenz in Bayern [12]. In dieser Konferenz wurden eine Reihe von kriminalisierenden und politisch propagandistischen Maßnahmen im Rahmen der „Bekämpfung des israelbezogenen Antisemitismus“ genannt. Dazu gehören Verbote von Veranstaltungen, Organisationen, und Slogans wie „From the River to the Sea, Palestine will be Free“.
Auch in anderen Teilen der westlichen Welt wurde Samidoun wiederholt angegriffen. Die Taktik der ständigen Verleumdung und Kriminalisierung konnten in Spanien, den Niederlanden, Belgien, Schweden, der Schweiz, Brasilien, den USA und Kanada beobachtet werden. Im März 2022 wurde „Collectif Palestine Vaincra“, eine Teilorganisation von Samidoun, in Frankreich von Emanuel Macron aufgelöst [13]. Diese Auflösung wurde später durch das französische Gericht suspendiert [14]. Während Samidouns Ortsgruppen lokal angegriffen wurden, fanden im vergangenen Jahr mehrere international koordinierte Angriffe statt. Beispielsweise wurde im Februar 2023 die „Alliance for Global Justice“, eine internationalistische und progressive Basisorganisation, die über 140 Organisationen finanziell unterstützt, von 11 zionistischen Organisationen wegen ihrer Unterstützung von Samidoun angegriffen [15]. Im März 2023 veranstalteten mehrere international-agierende zionistische Organisationen eine Konferenz im EU-Parlament, in der gefordert wurde, Samidoun zu verbieten [16]. Hauptvorwurf: Samidoun sei ein Arm des Irans in Europa. Zuletzt wurde im August 2023 ein internationales Bündnis „Designate Samidoun Alliance“ gegründet. Es besteht aus mehreren internationalen zionistischen Organisationen, die jeweils über jährliche Budgets in Millionenhöhe und direkte Verbindungen zu israelischen Regierung verfügen [17]. Sie fordern, Samidoun auf die Terrorlisten in der EU und USA zu setzen.
In Deutschland haben all diese Entwicklungen dazu geführt, dass der Staat bereits vor dem 07. Oktober ein Quasi-Verbot gegen Samidoun verhängt hat. In den Monaten vor dem Verbot stand Samidoun wegen einer landesweiten Hetzkampagne gegen pro-palästinensische Plakate in Berlin-Neukölln, mit aktiver Beteiligung des dortigen Bezirksbürgermeisters und des israelischen Botschafters, unter Feuer. Im Rahmen dieses Angriffs stellte die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) einen Antrag, Samidoun als terroristische Vereinigung nach §129 StGB zu listen [8]. Mitgliedern von Samidoun wurden kurz danach mit Abschiebungen gedroht, anderen wurden politischen Verbote auferlegt [18, 19], die ihnen die Teilnahme an jeglichen politischen Veranstaltungen untersagten, und Veranstaltungen von Samidoun in Berlin wurden fast garantiert blockiert und mit massiver Polizeipräsenz aufgelöst [20].

Abschließende Worte
Diese Konstellation repressiver Taktiken zeigt, wie fein abgestimmt und gezielt dieses System arbeitet, wenn es darum geht, Bewegungen zu unterdrücken, die lediglich auf die vom Staat vermeintlich garantierten Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit beharren. Sie zeigt auch, wie richtig die antiimperialistische Analyse ist. Der Angriff der DIG, dem „Designate Samidoun Alliance“, der deutschen Regierung und des israelischen Botschafters ist kein gemeinsam koordinierter Angriff. Man kann davon ausgehen, dass die meisten von ihnen zum Teil unabhängig voneinander agierten, doch es sind ihre zionistischen Interessen, die sich überschneiden und die Repression leiten. Die Untergrabung der zionistischen Interessen in Deutschland und die Organisierung der palästinensischen und arabischen Gemeinschaft ist nicht nur für den israelischen Botschafter und die zionistischen Organisationen in Deutschland ein Alptraum, sondern auch für die deutschen Medien, die deutschen Politiker, die deutschen Parteien, und den deutschen Sicherheitsapparat, die alle von der zionistischen Besatzung in Palästina klar profitieren.
Doch die antizionistische Mobilisierung bedroht nicht nur die materiellen Interessen des deutschen Kapitals, sondern auch die vermeintliche post-faschistische Identität, die der deutsche Staat in Folge seiner blutigen Geschichte um sich herum aufgebaut hat. Die vermeintliche Reue für seine völkermörderische Geschichte ist dabei die Unterstützung und Aufrechterhaltung der zionistischen Besatzung Palästinas – die berüchtigte deutsche „Staatsräson“. Jegliche Entlarvung der Besatzung als ein europäisches koloniales Projekt ist ein direkter Angriff auf diese Identität.
Nach dieser Einführung werden sich die nächste Beiträge tiefer mit den Gründen der Angriffe auf Samidoun und der palästinensischen Gesellschaft in Deutschland, der AI-Aqsa-Flut Operation am 07. Oktober, dem berühmten „Baklava lncident“ und den Konsequenzen des Verbots beschäftigen.


Nachweise
[1] „Samidoun: We will not be silenced by lsrael’s „terrorist“ designation“, samidoun.net. 28.02.2021
[2] “Uwe Becker stellt Strafanzeige gegen palästinensische Organisatian“. journal-frankrut.de – 12.05.2021
[3] „Erkenntnisse über Mitgliederzahlen und Tätigkeitsschwerpunkte der Organisation Samidoun”. bundestag.de – 06.05.2022
[4] „Erkenntnisse der Bundesregierung zur Volksfront für die Befreiung Palästinas“, bundestag.de – 14.09.2021
[5] “Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 17. April 2023 eingegangenen Antworten der Bundesregierung“, bundestag.de – 17.04.2023
[6] „Bedrohungspotential für die innere Sicherheit in Deutschland durch Palästinenser-Organisationen“, bundestag.de -19.10.2023
[7] „Samidoun-Stellungnahme zur Hetzkampagne in Deutschland“, samidoun.net-11.04.2023
[8] „Der deutsche Staat stellt sich iedem Unterstützer des palästinensischen Kampfs entgegen – eine neue Unterwerfung unter die zionistische Botschaft und ein Versuch, Samidoun zu verbieten“, samidoun.net -13.06.2023
[9] “Schamloser Angriff des deutschen Staates: Demonstrationen zum Tag der Palästinensischen Gefangenen in Berlin von der Polizei verbaten“, samidoun.net-13.04.2023
[10] “Berlin bans Nakba commemorations: United against Repression- United for Freedom and Justice“, samidoun.net-14.05.2022
[11] “Mehr als 160 Organisationen, politische Parteien und Gewerkschaften schließen sich der internationalen Kampagne gegen die antipalästinensische Repression in Deutschland an“, samidoun.net -08.05.2023
[12] “Unverschämte Eskalation des deutschen Staates gegen palästinensische Organisierung in Deutschland!”. samidoun.net-04.01.2023
[13] “Jrench government officiallv dissolves the Collectif Palestine Vaincra -Collectif launching its appeal”. samidoun.net -09.03.2022
[14] “Victorv for Palestine: French State Council suspends dissolution ofCollectif Palestine Vaincra!”. samidoun.net-29.04.2022
[15] “Aufdeckung der zionistischen Desinformation: Angriffe auf Samidoun und der Kampf der palästinensischen Gefangenen für Freiheit”. samidoun.net -25.02.2023
[16] “MEPs and international experts ca// on the EU to ban lran-linked radical extremist organisation Samidoun”. a-com.es -30.03.2023
[17] “Jewish NGOs campaign against Samidoun terror fundinq”. jns.org-27.08.2023
[18] “IStandWithZaid-Kampagne wächst mit internationalen und deutschen Veranstaltungen, +230 Unterstützer”. samidoun.net -01.10.2023
[19] “JusticeForMusaab : Dem palästinensischen Aktivist Musaab Abu Atta wurde in Deutschland ein politisches Verbot verhängt”. samidoun.net -04.10.2023
[20] “Berliner Kundgebung für Palästina stellt sich der Polizeirepression entgegen: From the River to the Sea, Palestine will be Free !”. samidoun.net – 02.10.2023