Nicole Grahlow
Während meiner Kinder- und Jugendzeit wuchs ich bei der Sekte der Zeugen Jehovas auf.
Das autoritäre System, das dort zu finden ist, ist mir daher sehr vertraut und auch heute habe ich noch einige Probleme, dies alles zu verarbeiten.
Innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft gibt es sehr viele Publikationen zum Lesen – und auch zum Studieren, was natürlich gewünscht, ja gefordert ist.
Und als Kind war Lesen mein liebstes Hobby. An Stoff mangelte es also nicht. Doch damals wie heute sind es nicht die theoretischen Texte, die es mir angetan haben und zu denen ich Zugang habe, sondern eher Erzählungen, Lebensberichte und dergleichen.
In den Zeitschriften fanden sich sehr oft Lebensberichte von Zeugen Jehovas aus allen Ländern und auch Zeiten. So stieß ich auch auf Berichte aus der faschistischen Zeit des Dritten Reiches, in der die Bibelforscher, wie die Zeugen Jehovas damals genannt wurden, wegen ihrer Weigerung, zum Nationalsozialismus zu stehen und sich an faschistischen Aktivitäten zu beteiligen, denunziert, verfolgt und in Konzentrationslagern interniert wurden.
Diese Berichte fand ich damals schon am spannendsten und auch am inspirierensten. Im Hinblick auf meine heutigen Überzeugungen und Aktivitäten nicht verwunderlich, aber was wusste ich schon als Kind und Jugendliche?
Sich nicht an Sachen zu beteiligen, die der Großteil der Bevölkerung tut, auch das habe ich als Zeugen-Jehovas-Kind am eigenen Leib miterlebt. Die Ausgrenzung, die kritischen Fragen, der Argwohn, das Mobbing, all dass macht zum Außenseiter und verursacht Leid, an dem ich beispielweise bis heute knabbere.
Doch damals war ich von der Sekte gezwungen, so zu handeln, mich nicht zu beteiligen, Anschlus zu finden. Ich stand nicht hinter den Gründen dieser Einstellung, natürlich konnte ich als Kind nicht vollends begreifen, warum ich eine Außenseiterin bin. Ich tat und war es, weil ich es musste. Solidarität, Verständnis, Mitgefühl von anderen Zeugen Jehovas war praktisch nicht vorhanden, denn man hatte zu funktionieren. So kämpfte ich alleine mit und um eine Überzeugung, die nicht meine war, und orientierte mich an der Kraft und dem Mut längst verstorbener Bibelforscher in den Konzentrationslagern.
Nach meinem Ausstieg von den Zeugen Jehovas mit ca 15 Jahren begann ein langer Prozess des Selbstfindens, des Versuchs, mich in dem System, in dem wir leben, einzufinden. Lange wusste ich nicht, dass ich aufgrund psychischer und gesundheitlicher Probleme sowieso nicht in der Lage bin, Vollzeit zu arbeiten und „normal“ zu funktionieren. So musste ich auch viele Jahre lang die unmenschlichen Umstände des Hartz IV ertragen, ohne je die Zusammenhänge in diesem System zu begreifen.
Erst vor ein paar Jahren bekam ich Kontakt zu politisch aktiven Menschen, und lernte, was hier falsch läuft. Mehr und mehr wurde auch ich aktiver, und fange an, radikalen politischen Widerstand zu leisten.
Und damit bin ich erneut in der Lage, dass ich eine Überzeugung habe, Aktivitäten nachgehe, die nicht dem „Mainstream“ entsprechen. Doch es gibt heute einen großen Unterschied zu meinen leidvollen Jahren bei den Zeugen Jehovas: Ich verstehe, was geschieht, warum es geschieht, in wessen Interesse es geschieht. Ich verstehe, was ich tun muss, warum ich es tun muss, und wie ich es tun muss, um dagegen vorzugehen. Ich stehe dahinter, es ist jetzt meine Überzeugung, meine eigene, keine aufgezwungene. Und ich bin nicht mehr alleine: Ich weiss von und kenne mittlerweile viele wertvolle Genossinnen und Genossen, die ebenso denken und fühlen, die ebenso kämpfen für eine bessere Gesellschaft. Wir stehen solidarisch zu einander, auch wenn wir uns nicht kennen, wir denken aneinaner und vergessen einander nicht, selbst wenn der oder die eine/r oder andere für seine Überzeugungen der staatlichen Repression ausgeliefert und eingesperrt wird. Ich denke an alle Gefangenen, die für ihre Überzeugungen, für ihren Kampf physisch einsam in einer Betonzelle sitzen, ich danke ihnen für ihren Mut und ihre Kraft, ich bewundere sie wie ich einst die Bibelforscher des Dritten Reiches bewundert habe, und denen ich ebenso dankbar bin für großartiges Beispiel wie für das Beispiel unserer jetzt inhaftierten Genossinnen und Genossen. Solange ich kann, werde ich auch dafür kämpfen, dass Ihr auch wieder in Freiheit kommt, und auch wieder physisch Teil unser solidarischen Gemeinschaft werden könnt.
Nun weiß ich, ich bin nicht mehr alleine, ich bin nicht mehr etwas, was man von mir erwartet zu sein, sondern ich bin ich selbst, gmeinsam mit Euch allen. Mit dem Kopf und vor allem mit dem Herzen dabei und mit Euch!