Interview zur Repression gegen die Proteste in Frankreich

Die hier veröffentlichten Teile des Interviews sind Auszüge eines Interviews mit Bernhard Schmid, das Zusammen Kämpfen [Stuttgart] geführt hat. Auf www.zk-stuttgart.tk kann das Interview in Broschürenform angefragt werden.


Die Repression fiel gegen die Proteste in Frankreich sehr heftig aus. Kannst du ein paar Eindrücke schildern? Gibt es Zahlen zu den Inhaftierten und Verletzten?

Die Regierenden in Frankreich versuchten zunächst, die Proteste durch begrenzte Zugeständnisse einzudämmen: Erst kam das Zuckerbrot, danach dann alsbald die Peitsche. Am 14. März 2016 wurde eine leicht entschärfte Fassung des umstrittenen Gesetzentwurfs vorgestellt, und dadurch die Zustimmung der CFDT-Spitze gewonnen. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene änderte dies allerdings an den Mehrheitsverhältnissen wenig. Es existiert keine Umfrage, in der es eine Mehrheit für das geplante „Arbeitsgesetz“ gegeben hätte, und die Ablehnung betrug Umfrage für Umfrage zwischen 60 und 74 Prozent.
Zugleich spielte polizeiliche Repression von Anfang an eine erhebliche Rolle beim staatlichen Umgang mit den Protesten. Vor allem im Umgang mit der Jugendbewegung bildete eine zum Teil unverhüllte polizeiliche Gewaltstrategie ein hervorstechendes Merkmal im staatlichen Vorgehen.
Am 17. März 2016 wurde ein Versuch, eine studentische Vollversammlung im Zentrum für Sozialwissenschaften in der Pariser rue Tolbiac, das der Universität Paris-1 (Sorbonne) angegliedert ist, durchzuführen, durch brutale Knüppeleinsätze verhindert. Zu dem Zeitpunkt war eine mehrtägige Schließung der Sorbonne amtlich verfügt worden. Am 24. März 2016 wurde ein am Boden liegender (schwarzer) Schüler der Pariser Oberschule Lycée Henri-Bergson im 19. Stadtbezirk durch Polizisten misshandelt. Die Szene wurde jedoch gefilmt, und zwei maßgeblich beteiligte Beamte werden sich (voraussichtlich ab November 2016) noch vor Gericht verantworten müssen.
[…] Die Strategie der Polizeiführung, die darin bestand, die vorderen Teile von Demonstrationen mit einem eng umgebenden Spalier zu umfassen, sorgte schon früh für eine erhebliche Radikalisierung vor allem seitens jüngerer Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Bis dahin war es in Frankreich jedenfalls bei Demonstrationen mit gewerkschaftlicher Beteiligung üblich, dass Polizei nicht zu sehen war – sondern sich weitgehend auf die Regelung des Verkehrs beschränkte und ansonsten ihre Einsatzkräfte einige Seitenstraßen weiter bereit hielt. Unter Berufung auf den Ausnahmezustand, der seit den Attentaten vom 13. November 2015 in Kraft ist, begegnete die Regierung unter Manuel Valls den sozialen Protesten jedoch von Anfang an mit einer äußerst offensiven Polizeistrategie.
Im Laufe der Wochen stieg, in Reaktion darauf, die Eskalationsbereitschaft vor allem seitens der jüngeren Generation. Schon ab Ende März 2016 formierte sich bei den Demonstrationen jeweils ein stärkerer schwarzer, respektive bunter Block vor dem carré de tête (Prominentenblock), also vor dem offiziellen Protestzug. Im Mai 2016 umfasste er bei mehreren Demonstrationszügen bis zu dreitausend Menschen. Die Polizei antwortete darauf wiederum mit massiven Einsätzen von Tränengas, Schock- und Blendgranaten. Dazu zählt auch der Einsatz von Überwachungshubschraubern – jede größere Demonstration in Paris hatte einen Hubschrauber im Tiefflug über sich stehen, Ähnliches wurde auch in anderen Städten beobachtet. Und in zwei Fällen (am 09. und am 28. April 2016) wurde zusätzlich eine Überwachungsdrohne am Pariser Himmel eingesetzt. Danach wurde die Drohne allerdings nicht mehr gesehen.
Die Regierung scheint sich im Laufe der Wochen eine Strategie zu eigen gemacht zu haben, die von Kritikerinnen und Kritikern schon früh als „Strategie der Spannung“ bezeichnet wurde. Demzufolge wurde ein gewisses Ausmaß an Eskalation als wünschenswert betrachtet – um in der Folgezeit zu beobachten, dass der Fokus in der Medienberichterstattung (vor allem bei mehreren Fernsehanstalten) ausschließlich auf die „Gewaltfrage“ gelegt wird und die Ursachen sowie Anliegen des Protests vollständig in den Hintergrund rücken.
[…] Von insgesamt dreizehn gewerkschaftlichen „Aktionstagen“ zwischen Anfang März und Anfang Juli dieses Jahres überschritten zwei (am 31. März und am 14. Juni 2016) die Millionengrenze, laut gewerkschaftlichen Angaben, während die Zahlen aus dem französischen Innenministerium stets darunter liegen. Bei mehreren der „Aktionstage“ betrug die Zahl der Teilnehmenden, auch wenn man die höheren gewerkschaftlichen Angaben (statt der niedrigeren Polizeizahlen) heranzieht, rund eine Viertelmillion landesweit.
Bei der Protestbewegung gegen die Schleifung des Kündigungsschutzes für jüngere Lohnabhängige von Februar bis April 2006 oder bei den Demonstrationen gegen die „Rentenreform“ im September und Oktober 2010 wurden dagegen mehrfach zwei bis drei Millionen Teilnehmende landesweit erreicht. Viele Lohnabhängige mittleren oder fortgeschrittenen Alters und/oder mit familiären Pflichten blieben den diesjährigen Demonstrationen fern. Nicht aus mangelnder Sympathie für die Anliegen – sondern um „den Jüngeren das Feld zu überlassen“ und aus Furcht vor Folgen für die eigene körperliche Unversehrtheit, oder vor einer Beeinträchtigung des Familienlebens. Wer die eigenen Kinder bis zu einer vorgegebenen Stunde im Kindergarten oder an der Schultür abholen muss, wird eher nicht riskieren, zu dem Zeitpunkt im Krankenhaus behandelt zu werden oder im Polizeigewahrsam zu schmoren…
Die Gesamtzahl der Festnahmen dürfte um die 2.000 betragen. Abschließende, zuverlässige Angaben dazu liegen bislang nicht vor. Am 17. Mai – es handelte sich damals um den siebten gewerkschaftlichen „Aktionstag“, von insgesamt bislang dreizehn – veröffentlichte der amtierende Innenminister Bernard Cazeneuve dazu seinerseits eine Zwischenbilanz. Demnach hatte es zu dem Zeitpunkt insgesamt 1.300 Festnahmen gegeben, die in 819 Fällen zu Polizeigewahrsam führten (die gesetzliche Obergrenze dafür beträgt 24 bzw. 48 Stunden). Am 26. Mai gab das Innenministerium an, es seien bis dahin 1.400 Festnahmen vorgenommen worden.
Diese werden noch zu zahlreichen Strafverfahren führen. In ersten Eilverfahren – die Blitzprozedur der comparution immédiate kann bei „In-Flagranti-Aufgriffen“ im Zusammenhang mit Strafdelikten durchgeführt werden, bis Anfang Juni d.J. hatten bereits fünfzig solcher Prozesse stattgefunden – wurden Geldbußen und Haftstrafen mit und ohne Bewährung verhängt. In Paris beträgt das höchste Strafmaß bislang fünf Monate Gefängnis ohne Bewährung. Im westfranzösischen Nantes wurde in einem Fall eine Haftstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung verhängt, gegen einen jungen Mann, der einen Gegenstand auf die Polizei geworfen haben soll. In derselben Stadt wurde auch ein Demonstrant zu einem Monat Freiheitsentzug ohne Bewährung verurteilt, weil er vor Polizisten die Hose heruntergelassen hatte. (Freiheitsstrafen unter zwei Jahren werden in Frankreich gewöhnlich zur Bewährung ausgesetzt, doch die verurteilenden Gerichten können es anders bestimmen. Sie haben auch die Möglichkeit, die Inhaftierung direkt vom Gerichtssaal aus anzuordnen, von welcher sie im Zusammenhang mit den Protesten mehrfach Gebrauch machten.)
Die Zahl der Verletzten dürfte ebenfalls um die 2.000 betragen, auf landesweiter Ebene. Bezogen auf Paris spricht das Sanitäterinnen- und Sanitätsteam der Demonstrationen (genannt die street medics) von rund 1.000 Verletzten. Die offiziellen Angaben dazu, die aus dem französischen Innenministerium kamen, waren meistens grundsätzlich falsch. Im Zusammenhang mit der Zentraldemonstration vom 14. Juni dieses Jahres sprach Innenminister Cazeneuve von „29 verletzten Polizisten und 11 verletzten DemonstrantInnen“. Doch das Sanitätsteam der Protestbewegung gibt an, allein an dem Tag in Paris rund einhundert Verletzte behandelt zu haben. Härter noch fiel die Polizeigewalt in den westfranzösischen Städten Nantes und Rennes aus, wo die autonome und anarchistische Bewegung stark verankert ist.
Am schwersten verletzt wurde wohl der 28jährige Photograph Romain Dussaux, der am Abend des 26. Mai in Paris durch den Splitter einer Polizeigranate an der Schläfe getroffen wurde und bis zum 06. Juni im Koma lag. In Rennes verlor der 21jährige Geographiestudent Jean-François Martin bei der Demonstration am 29. April dieses Jahres ein Auge, mutmaßlich durch ein polizeiliches Gummigeschoss. (Hingegen ist bislang offiziell ungeklärt, ob die gefährlichen Verbrennungen, welche sich ein Demonstrationsteilnehmer am 14. Juni in Paris am Rücken zuzog, auf eine Polizeigranate oder aber auf einen Feuerwerkskörper von der anderen Seite zurückzuführen sind.)
In der Schlussphase der bisherigen Proteste – Ende Juni und Anfang Juli 2016 – kam es ferner zu administrativen Maßnahmen, die ihrerseits eine neue Qualität hatten. Infolge von „Ausschreitungen“ am Rande der Pariser Zentraldemonstration vom 14. Juni 2016 ging die Regierung erstmals zu einer Verbotsstrategie über: Am Vormittag des 22. Juni verhängte das Innenministerium ein Verbot über die, am folgenden Tag geplante Gewerkschafts- und Sozialprotest-Demonstration. Es handelte sich um das erste Verbot einer Demonstration mit gewerkschaftlicher Unterstützung in Frankreich seit dem Jahr 1962, also der Schlussphase des Algerienkriegs.
Nach einem Aufschrei auch in der etablierten Politik und Presse sowie infolge mehrstündiger Verhandlungen zwischen Gewerkschaftsvorständen (CGT und FO) und Innenminister wurde das Verbot doch noch aufgehoben. Aber die Demonstration wurde nur unter extremen Auflagen genehmigt. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde nur eine Route von 500 Metern gewährt, an deren Ende sie kehrtmachen und zum Ausgangsort zurücklaufen mussten. Die Gesamtstrecke der Demonstration (an der trotz allem rund 30.000 Menschen in Paris teilnahmen) betrug nicht mehr als anderthalb Kilometer. Ferner mussten die Teilnehmenden eine vierfache polizeiliche Absperrung durchqueren und sich bzw. ihre Sachen einzeln durchsuchen lassen. Es kam dabei zu rund achtzig Festnahmen in Paris, ihre Gesamtzahl landesweit betrug am selben Tag 113; das Mitführen etwa von Taucherbrillen (zum Schutz vor Tränengas) genügte dafür oft. Die innerste Polizeikette hatte rund um den Pariser Bastille-Platz, der den Ausgangs- und Abschlussort der Demonstration bildete, eine fast hermetische Absperrung mit Plexiglasschildern gezogen und nur einen Ausgang offen gelassen. In den „sozialen Medien“ verglichen viele Kommentatore den Protestzug mit einem „Rundgang auf einem Gefängnishof“. Die Regierung, die sich im Anschluss auf ihren „Erfolg“ in Gestalt ausbleibender Ausschreitungen berief, hat dadurch einen absolut bedenklichen Präzedenzfall geschaffen.
Im Vorfeld und während des Verlaufs weiterer Demonstrationen am 28. Juni sowie am 05. Juli (dem zwölften sowie dreizehnten gewerkschaftlichen „Aktionstag“ gegen die geplanten Veränderungen im Arbeitsrecht) wurde das Pariser Gewerkschaftshaus – die Bourse du travail – über mehrere Stunden hinweg durch die Polizei umstellt. Zuvor hatten sich Menschen versammelt, die am schwarz-bunt-jugendlichen Block teilzunehmen gedachten und sich den extremen polizeilichen Auflagen durch kollektives Auftreten entziehen wollten. Die Polizei ließ zeitweilig niemanden nach draußen, zeitweilig nur diejenigen, die sich Einzelkontrollen mit Leibesvisitation unterzogen, was die drinnen Versammelten mehrheitlich ablehnten. Auch eine solche Maßnahme gegen ein Gewerkschaftshaus weist eine neue Qualität auf.