Das §129b-Verfahren gegen Erdal Gökoğlu in Hamburg – Stand 26. Mai 2019

 

Alexander Kienzle und Britta Eder, Anwält*innen aus dem §129b-Verfahren gegen Erdal

An über 53 Hauptverhandlungstage seit Juni 2018 wird vor dem 3. Senat des HansOLG gegen Erdal Gökoglu wegen angeblicher Mitgliedschaft in der DHKP-C von 2002 bis 2017 verhandelt, wobei insbesondere zwei Themen das Verfahren belasten: einerseits die wegen seiner früheren Inhaftierung in der Türkei angegriffene Gesundheit Erdals, andererseits die Verstrickung von Nachrichtendiensten in die maßgeblichen Sachverhalte und deren selbstschützende Weigerungshaltung, an der Aufklärung umfassend mitzuwirken.
Erdal befindet sich seit Dezember 2017 in U-Haft in Hamburg. Wie in sog. „Terrorismusverfahren“ üblich wurde er 23 Stunden täglich eingeschlossen, Kontakt zu anderen Gefangenen unterbunden und bei Besuchen seiner Verteidiger*innen eine Trennscheibe installiert.
Die strikte Isolation wurde zwar zwischenzeitlich etwas gelockert und bspw. Kontakt zu Gefangenen erlaubt. Trotzdem bleibt es bei der – auch die Verteidiger*innen in Generalverdacht nehmenden – Trennscheibenanordnung. Liegt ein Tatverdacht nach § 129a/b StGB vor, stellt die Trennscheibe seit der RAF-Verfolgung in den Siebzigern den gesetzlichen Normalfall dar. Bei Erdal dienen u.a. Briefe von oder an ihn als zusätzliche Begründung, in denen sich Menschen aus Sicht des Gerichts DHKP-C-nah mit (historisch) revolutionären Gedanken und Zitaten zur Türkei oder einem gezeichneten Porträt von Mahir Cayan auseinandersetzen. Nicht einmal eine Begrüßung per Handschlag ist zwischen Mandant und Verteidigung ohne konkreten Anlass hierfür möglich – geschweige denn eine uneingeschränkte Verteidigung.
Diese Bedingungen treffen in Erdal einen Gefangenen, der am sog. Todesfasten teilgenommen hat. Er wurde bei einem Gefängnismassaker 1999 in dem Gefängnis von Ulucanlar schwer verletzt, als Polizei und Armee in Haftanstalten mit Kriegswaffen und Gas ausgerüstet eindrangen und Häftlinge angriffen, die sich im Hungerstreik gegen neue Typ-F-Gefängnisse zur Wehr setzten. Er wurde aufgrund seiner Verletzungen für tot gehalten und auf einem Leichenberg abgelegt. Nur knapp dem Tod entronnen wurde er aus der Haft entlassen, weil nach seiner Vermutung sein Tod in der Haft habe verhindert werden sollen. Zu groß sei die Furcht gewesen, dem Kampf gegen die (tödlichen) Haftbedingungen durch weitere sterbende Inhaftierte Vorschub zu leisten. Auf seine Flucht nach Europa nahm er Traumatisierungen, das Wernicke-Korsakow-Syndrom und eine Vielzahl körperlicher Gebrechen mit. Er ringt seither fast täglich mit starken, migräneartigen Kopfschmerzen, die wiederholt auch zur Aufhebung oder der Verkürzung von Prozesstagen führten, weil Konzentration unmöglich wurde.
Schon die Haftbedingungen für sich genommen wären dieser gesundheitlichen Situation nicht zuträglich, hinzu tritt aber noch eine teils miserable medizinische Versorgung in der U-Haft. Es dauerte bspw. Monate und brauchte die Hilfe des (auch) um die Hauptverhandlung besorgten Gerichts, bis ein Umgang mit Erdals Migräneanfällen gefunden war, der es ihm ermöglichte, schon bei Frühwarnzeichen Medikamente zu nehmen. Gleichwohl wird noch immer das Sicherheitsdenken über die Gesundheit gestellt: Zu einer MRT-Untersuchung wurde Erdal in Hand- und Fußfesseln ausgeführt. Da die Fesseln aus Metall die MRT-Diagnostik beeinträchtigen, wurden sie vorher abgenommen – um durch Kabelbinder ersetzt zu werden, die aus Plastik und daher diagnostisch nicht störend sind. Erdal verweigerte den gefesselten Einstieg in die Röhre des MRT, die andere auch ungefesselt an den Rand der Panik bringt. Die Diagnostik wurde daraufhin ersatzlos gestrichen und Erdal zurück in die UHA verlegt. Weder die Justizangestellten noch die verantwortlichen (zivilen) Ärzte intervenierten zugunsten einer indizierten medizinischen Behandlung.
Das Haftstatut wurde auch zugunsten medizinischer Maßnahmen nicht geändert.
Neben diesen Umständen stellt sich der BND als massive Belastung des Verfahrens dar. Die gegen die Wahrheitsfindung gerichtete Haltung des BND ist zuletzt fast alleiniger Prozessgegenstand gewesen. Seit 2010 spielen in DHKP-C-Verfahren Angaben von Alaattin A. eine große Rolle, der vor 2010 Quelle des BND war und zugleich Mitglied der DHKP-C gewesen sein soll. In einem ihn betreffenden Ermittlungsverfahren des GBA machte er 2010 Angaben zur sog. Rückfront und deren Struktur, Tätigkeiten und Personal. Auch Erdal gehörte zu den von A. Belasteten. Die Glaubhaftigkeit der Angaben A.s ist umstritten: Seine Kontakte zu Drogenhandel und OK (Organisierte Kriminalität), die mögliche Strafmilderung als „Kronzeuge“ und seine mit finanziellen Vorteilen einhergehende Rolle als „Verräter“ machen seine Angaben fragwürdig. Dazu kam, dass Vorabsprachen zwischen Ermittlungsbehörden und BND, die geheim gehalten werden, unklar machen, was Wahrheit ist und was (nachrichtendienstliches) Konstrukt. Für A. lohnten sich die Angaben gleichwohl: Er wurde 2011 wegen Mitgliedschaft zu (nur) zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Seither schweigt er auch wegen einer angeblichen Schweigeverpflichtung gegenüber dem BND. Gerichte glauben ihm gleichwohl bereitwillig, weil ohne seine Angaben Verurteilungen (teils) schwierig wären. Das gesamte DHKP-C-Konstrukt der deutschen Ermittler beruht auch auf den Angaben von A.
Stand bisher „nur“ eine BND-Steuerung der Angaben A.s im Raum, drängt sich aus dem Verfahren gegen Erdal ein neuer, ungeheuerlicher Verdacht auf: Die Steuerung wurde nicht (nur) vom BND, sondern auch dem türkischen Geheimdienst unternommen. In den Urteilen zur DHKP-C hieß es bisher, dass A. von zwei Mitarbeitern des BND geführt worden sei: „Robert L.“ und „Cihan“. Erst in Erdals Verfahren musste der BND nach monatelanger angeblicher Prüfung auf Anträge der Verteidigung hin – gegen die bisherige nachrichtendienstliche Legendenbildung – einräumen, dass „Cihan“ kein Mitarbeiter des BND war. Seither geht das Gericht in Beschlüssen davon aus, dass „Cihan“ hochwahrscheinlich ausschließlich Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes gewesen sei.
Die Folgen aus diesem Eingeständnis sind unabsehbar. Es ist festzuhalten, dass der BND betreffend den angeblichen Mitarbeiterstatus des „Cihan“ viele Jahre inhaltlich unzutreffende höchstrichterliche Urteile gefördert und hingenommen hätte. Trotzdem sollen BND-Informationen nach wie vor Verurteilungsgrundlage werden. „Cihan“ hätte sein (nachrichtendienstliches) Unwesen vor 2010 außerhalb bundesdeutscher Gesetze und fernab parlamentarischer Kontrolle getrieben und sich dabei ggf. selbst strafbar gemacht. Trotzdem soll es dem BND nach wie vor freistehen, aus eigenem Ermessen heraus die zugrundeliegenden Sachverhalte geheim zu halten. „Cihan“ hätte schließlich als ausländischer Agent – wie sich aus TKÜ (Telekommunikationsüberwachung) ergibt – an A. ohne Autorisierung hierzu Informationen deutscher (Ermittlungs-) Behörden und Anweisungen zu strafbarem Verhalten weitergegeben, das heute mit zur Verdachtsbegründung gegen andere dienen und diese ins Gefängnis bringen soll. Die angenommen Steuerung („hochwahrscheinlich“) durch den türkischen Geheimdienst macht die Angaben A.s nicht gerade glaubhafter. Wen würde es unter diesen Umständen wundern, wenn auch bei fehlender strafrechtlicher Verantwortlichkeit gerade Menschen wie Erdal, die laute Kritik an den Verhältnissen in der Türkei üben, belastet würden? Gleichwohl hält das HansOLG bis heute an der Annahme eines dringenden Tatverdachts gegen Erdal fest, hieran soll auch die Beteiligung eines Geheimdienstes des Staats, den durch das Verfahren mittelbar zu schützen man vorgibt, nichts ändern. Die von der Verteidigung unternommenen Versuche, diese Sachverhalte weiter aufzuklären, scheiterten zuletzt daran, dass der BND die maßgeblichen Informationen für „geheim“ erklärte und einen Zugriff darauf verhinderte. Man wird wissen, warum.

Prozesstermine

Prozesstermine von Erdal Gökoğlu
– 17. Juni 2019, Montag um 09:00 Uhr
– 19. Juni 2019, Mittwoch um 09:00 Uhr
– 27. Juni 2019, Donnerstag um 09:00 Uhr
– 28. Juni 2019, Freitag um 09:00 Uhr

Das Verfahren findet statt:
Sievekingsplatz 3, 20355 Hamburg (U-Bahn Messehallen), unten rechts, im Staatschutzskeller, Raum 288.
Hinweis: Die Prozesstage können variieren. Die, die aus anderen Städten anreisen, sollten uns vorher anrufen, um Informationen darüber zu erhalten.

Tel: 0049 174 4549193
Mail: freiheitskomitee@gmx.de