Fragen zum ATIK-Verfahren an Stephan Kuhn

Am 17. Juni hat das bislang größte §129b Verfahren gegen eine linke Organisation vor dem OLG München begonnen. 10 Angeklagte stehen vor Gericht. Dr. Banu Büyükavci, Deniz Pektas, Erhan Aktürk, Haydar Bern, Mehmet Yesilcali, Musa Demir, Müslüm Elma, Sami Solmaz, Seyit Ali Ugur und Dr. Sinan Aydin wird vorgeworfen Mitglieder der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten) zu sein.
Wir hatten die Gelegenheit ein Interview mit Stephan Kuhn, dem Anwalt von Müslüm Elma zu führen.

Was sind die konkreten Anklagepunkte gegen die 10 Angeklagten?
Allen Angeklagten wird die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Nach Ansicht der Bundesanwaltschaft ist die Tikko Bestandteil der TKP/ML. Die Tikko wiederum soll mit Waffengewalt gegen den türkischen Staat kämpfen, um eine Volksrevolution herbeizuführen. Die Angeklagten sollen durch ihr für sich genommen legales Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, bspw. Spendensammeln und die Organisation von Veranstaltungen, die Gesamtorganisation und damit auch den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat unterstützt haben. Die Tatzeiträume, die den einzelnen Angeklagten vorgeworfen werden, differieren. Herrn Elma wird zur Last gelegt, bereits bei Einführung des § 129b StGB im August 2002 Rädelsführer der TKP/ML zu sein. Rädelsführer, also Zentralgestalten einer Vereinigung, droht nach dem Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren. Auch der lange Tatzeitraum ist für die Strafzumessung relevant.

Die TKP/ML ist in Deutschland nicht verboten und wird auch nicht auf den sogenannten „Anti-Terrorlisten“ geführt. Wie kann es dann zu dieser „Terror“ Anklage kommen? Und bedeutet das, dass die TKP/ML künftig verboten sein wird?
Formal gesehen hat die Frage der Listung auf einer der sogenannten Terrorlisten und eine Anklage wegen des Vorwurfs des § 129b StGB nicht zwingend etwas miteinander zu tun. Aber natürlich ist es so, dass den Angeklagten, die ja nach den Akten teilweise ganz offiziell Versammlungen anmeldeten, was ihnen jetzt als Betätigungshandlungen für eine terroristische Vereinigung angelastet wird, ggfls. darauf vertrauten, sich hier in Deutschland legal politisch zu betätigen. Sollte es im vorliegenden Verfahren zu Verurteilungen kommen, werden voraussichtlich weitere Strafverfahren folgen, auch eine Listung der TKP/ML auf Terrorlisten und ein Vereinsverbot sind möglich.

In dem Verfahren wird bereits seit 2006 ermittelt und es hat 2007 Hausdurchsuchungen gegeben. Öffentlich wurde das aber erst im April 2015 durch erneute Razzien. Ist eine solch lange Ermittlungszeit „normal“? Was sind denn die Hintergründe des Verfahrens?
Da sprechen Sie einen ganz entscheidenden Punkt an, der auch uns fassungslos macht. Wenn man die Anklageschrift und die Stellungnahmen der Bundesanwaltschaft ernst nimmt – was dem normalen Menschenverstand teilweise schwer fällt – , dann haben wir es mit einer hochgefährlichen terroristischen Vereinigung zu tun. Diese Annahme ist ja Grundlage der Überwachung des Schriftverkehrs der Mandanten mit ihren Verteidigern, der Anordnung, dass alle Besuche mit Trennscheiben erfolgen und der Prozess mit massiver Präsenz bewaffneter Polizeikräfte im Sitzungssaal geführt wird. Deshalb wurden die Angeklagten auch über Monate faktisch in Isolationshaft gehalten. Auf der anderen Seite lassen die Sicherheitsbehörden diese „hochgefährlichen“ Menschen jahrelang ungehindert ihr angeblich „terroristisches“ Treiben vollführen. Man könnte da an eine Mittäterschaft der Sicherheitsbehörden durch Unterlassen denken. Dann hat ja das Nichteingreifen der Bundesanwaltschaft –wie gesagt nach ihrer eigenen Logik– angebliche Anschläge in der Türkei ermöglicht. Ich halte das für skandalös. Entweder unsere Mandanten sind gefährlich, dann muss der Staat nach seiner eigenen Logik frühzeitig gegen diese Gefahr vorgehen oder sie sind es nicht. Dann gibt es aber auch keinen Grund für diesen Prozess, insbesondere nicht in der völlig aufgeblähten Form und Rhetorik, mit der er seitens der Bundesanwaltschaft betrieben wird.

Ein kurzer Blick zurück: 2006 wurden zum ersten Mal 5 türkische Linke mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer linken Organisation – damals der DHKP-C verhaftet. Im März 2008 begann der Prozess gegen die 5 und seitdem kommen die §§129 jährlich zum Einsatz. Zunächst verstärkt gegen angebliche Mitglieder der DHKP-C, ab Oktober 2010 dann gegen angebliche Mitglieder der PKK. Gibt es eine Tendenz in der Anwendung des §129b gegen linke Organisationen?
In der deutschen (Rechts-)geschichte gibt es eine lange Tradition der strafrechtlichen Verfolgung linker Gruppen insgesamt. Seit einigen Jahren wurde diese Praxis mittels des § 129b StGB internationalisiert. Linke türkische Gruppen gerieten in letzter Zeit noch verstärkt in den Fokus, auch wenn man bereits seit Ende der achtziger Jahre die Verfolgung kurdischer Politiker hier etabliert hat. Nach meiner Überzeugung ist dies vor allem aussenpolitisch motiviert. Deutsche Behörden und das, die Verfolgungsermächtigung erteilelende BMJV exekutieren insoweit die repressive Innenpolitik der Türkei, eines Staates der systematisch foltert und eine Krieg gegen seine eigene Bevölkerung führt.

Viele bezeichnen die §§129 als Schnüffelparagraphen. Wie würden Sie den §129b beschreiben?
Meines Erachtens stellt der §129b StGB jedenfalls soweit er Vereinigungen ausserhalb der EU betrifft, kaum noch Recht dar, wenn man unter Recht mehr als nur ein formal ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren versteht. Alle Vorwürfe, die man gegen die §§ 129, 129a StGB erhebt, er sei ein Schnüffelparagraph, er sei unverhältnismäßig in der Strafdrohung und verstoße gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien sind zutreffend. Im Falle des § 129b StGB kommen noch weitere rechtsstaatliche Zumutungen hinzu: Beweise werden zu einem großen Teil von dem Staat geliefert, in dessen Interesse das Verfahren geführt wird, die für das gesamte Verfahren entscheidende Verfolgungsermächtigung wird von einem Ministerium erteilt und ist daher politisch motiviert. Sie muss nicht begründet werden, ein Akteneinsichtsrecht gibt es insoweit nicht und die Verfolgungsermächtigung ist nach dem Willen des Gesetzgebers gerichtlich nicht überprüfbar. D.h. die eigentliche Entscheidung wird von politischen Entscheidungsträgern hinter verschlossenen Türen getroffen. Da es nahezu weltweit mehr oder weniger gewalttätige Opposition gegen mehr oder weniger rechtsstaatliche Regimes gibt, ist der potentielle Anwendungsbereich des § 129b StGB so weit, dass die dann stattfindende Verfolgung notwendig willkürlich wird. § 129b StGB ist daher von Anfang an gar nicht auf eine gleiche Anwendung angelegt. Gleichbehandlung ist aber Wesensmerkmal des Rechts.

Die Frage nach der Solidarität ist für uns natürlich eine sehr wichtige. Wie sollte diese, ihrer Meinung nach, im aktuellen ATIK Verfahren, aber auch generell bei §129b Prozessen aussehen?
Sicht- und spürbare Solidarität ist in diesen Verfahren extrem wichtig. Ich habe oft den Eindruck, dass die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des § 129b StGB in linken und intellektuellen Kreisen erst jetzt langsam klar wird. Insoweit hat die Terrorrhetorik bislang gut gewirkt. Ich halte es für sehr wichtig, dass der breiten Öffentlichkeit verdeutlicht wird, welche Vorwürfe und welches Verhalten tatsächlich hinter dem Terrorvorwurf stecken und welche Rechtspraxis dies ermöglicht. Diese Aufklärung würde zugleich viel über die Politik dieses Staates und der Staaten, für die er tätig wird, aussagen. Das Verfahren betrifft aber auch die Organisation migrantischer Arbeitnehmer, sodass es auch hier zahlreiche Anknüpfungspunkte für Arbeitnehmer- oder Bürgerrechtsvereinigungen gibt. Ich würde mir wünschen, dass die Solidaritätsarbeit aus einem möglichst breiten und bunten Spektrum kommt.  Denn es muss gesehen werden, dass die § 129b StGB-Verfahren eine rechtsstaatliche Zumutung sind, die auch die bürgerliche Mitte nicht hinnehmen kann.

Müslüm Elma, Ihr Mandant, ist durch die lange Haftzeit in der Türkei auch gesundheitlich angeschlagen. Wie geht es ihm und den anderen Gefangenen?
Alle Gefangenen bewahren nach außen Haltung. Sie wollen nicht als Opfer ihrer Gesundheit und Vergangenheit angesehen werden. Ihnen geht es vielmehr darum zu zeigen, dass sie in Deutschland politisch Verfolgte sind, wie sie es teilweise auch in der Türkei waren. Deshalb will auch ich diese persönlichen Umstände hier nicht vertiefen. Nur soviel: Mir persönlich flößt es den allergrößten Respekt ein, wie mein Mandant, der ja in der Türkei aufgrund politischer Verfolgung bereits mehr als 20 Jahre im Gefängnis saß, dort wiederholt am Todesfasten teilnahm und unvorstellbare Folter erlitt, damit umgeht, dass sich die Geschichte der Repression, in dem Land, in dass er flüchtete, für ihn wiederholt. Auf der anderen Seite, halte ich das Vorgehen der Sicherheitsbehörden auch aus diesen Gründen für unfassbar.