(forensische) Psychiatrie – Ein Ort der Herrschaft

Psychiatrie kritische Gruppe HB (stattpsychiatrie@riseup.net)

Der Text entstand in Anlehnung, an einen noch unveröffentlichten Text, der voraussichtlich 2018/2019 im 2.Band „Gegendiagnose – Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie“ in erweiterter Form erscheinen wird.

Psychiatrie ist neben dem Knast eines der mächtigsten Instrumente, die der Staat gegen die Menschen zu bieten hat. Ihre Waffen: Entzug von Freiheit und Rechten, seelische und geistige Entmündigung, Diagnosen sowie Behandlung.
Forensische Psychiatrie steht exemplarisch für Zwang in der Psychiatrie und weist dabei ein massives Potential an rechtsstaatlich geschützter Gewalt auf. Anliegen der Autor*innen ist es, wenn auch im Folgenden Merkmale der forensischen Internierung beschrieben werden, die gesamte psychiatrische Maschinerie als einen Apparat zu verstehen. Es gibt keine „gute“ Psychiatrie! Ihre Waffen (Diagnosen und Therapien, vor allem pharmakologische…) wirken nicht erst an der Schnittstelle zwischen Knast und Psychiatrie – dem „Psycho-Knast“, der forensischen Psychiatrie oder auch Maßregelvollzug genannt.
Das psychiatrische System verwaltet 1,3 Millionen in gesetzlicher Betreuung. Jährlich werden 200.000 Menschen gegen ihren Willen in die Psychiatrie eingewiesen, davon 10.875 in die forensische Psychiatrie. [1], [2] Psychiatrie steht wie das Knast-System durch gesetzliche Reglementierung von Freiheitsrechten im Spannungsfeld staatlicher Herrschaft. Neben dem Knast ist auch Psychiatrie eine totale Institution, die im Namen von „Gesundheit“, „Fürsorge“, „Resozialisierung“ und „Sicherheit“ mit Abweichungen von der „Norm“ und/oder Regelverletzungen umgeht. Über Etikettierung (Diagnose) werden Abweichungen von einer „Norm“ definiert, und der Zugriff auf eine Person (Behandlung/Therapie) wird legitimiert. Das Definitions-, Macht-, und Gewaltmonopol liegt beim Staat – und von ihm verliehen – bei den meist privatisierten Gesundheitsbetrieben, bzw. den innerhalb und für sie Agierenden.
Während der Knast von allen Menschen, die nicht an Wegsperr-Logik glauben, schnell durchschaut und als Sanktions-, und Repressionsapparat enttarnt werden kann, wirkt der Machtkomplex, dem die Psychiatrie innewohnt, subtiler. Vor allem liegt das am Label „Gesundheit“, „Fürsorge“ und „Therapie“- unter dem repressiv gegen Menschen vorgegangen wird.
Psychiatrie und insbesondere Forensik, wird häufig tabuisiert, vergessen und unterschätzt, auch in linksradikalen Diskursen. Medienbilder suggerieren, dass innerhalb der forensischen Psychiatrie Mörder*innen und Vergewaltiger*innen vor der Gesellschaft weggeschlossen werden. Im Namen der „Heilung“ geraten vor allem Menschen, deren Lebenssituationen häufig schon im Vorfeld diskriminierenden Mechanismen unterliegen, und Menschen, die nicht regelkonform leben wollen und/oder können, in langfristige „Obhut“ des Staates. Statistisch gesehen hat jede/r dritte Maßregelpatient/in eine Heimsozialisation erfahren. Häufig waren Maßregelpatient*innen bereits vorher im Knast und/oder in der Psychiatrie. Stark angestiegen ist auch der Anteil der Untergebrachten mit einem nicht-deutschen Hintergrund, die leicht in repressive Staatsmühlen geraten. [3] In den letzten 30 Jahren erlebte das Geschäft mit dem Maßregelvollzug einen regelrechten Boom. Maßregelplätze haben sich dabei fast verdreifacht2; die Verweildauer im MRV stieg ebenfalls an. Und es wird weiter aufgerüstet und umgerüstet. Untersuchungen stellten fest, dass die Zahl der Delikte, die eine Einweisung in die forensische Psychiatrie rechtfertigen (sollen), innerhalb psychiatrischer Einrichtungen erheblich angestiegen sind. In einer Studie zu „Anlassdelikten im institutionellen Rahmen“ in Baden-Württemberg wird das erschreckende Studienergebnis angeführt, dass es sich bei jeder vierten forensischen Einweisung um ein Einweisungsdelikt im institutionellen Rahmen handelt, andere Untersuchungen kamen zu ähnlichen Ergebnissen. [3], [4], [5] Kritiker*innen sprechen in diesem Zusammenhang von einem Prozess der „Forensifizierung“. Jedes vierte psychiatrische Bett – so die Vermutung – befindet sich mittlerweile in der forensischen Psychiatrie. [6] Der Blick auf „Hochrisikopersonen“, bewirkte ein kategorisches Wegsperren ohne Verhältnismäßigkeit und Berücksichtigung individueller Therapieverläufe [7], was nebenbei bemerkt ein lukrative Geschäft ist. Ein Unterbringungsplatz pro Gefangenem und Monat kostet 10.500 Euro. Menschen werden in die forensische Psychiatrie nach § 63 StGB und § 64 StGB überführt, wenn eine Tat nach (§20 StGB) als “nicht schuldfähig“ bzw. „erheblich eingeschränkt schuldfähig“ (§21StGB) bewertet wird. In Kraft ist das Gesetz zur „Sicherung und Besserung“ seit 1934! Während §64 die Unterbringung an eine Sucht-Thematik koppelt und auf zwei Jahre begrenzt ist, bedeutet §63 eine Unterbringung ohne Zeitbegrenzung. Ein „Raus-kommen“ ist an „Kooperation“ und „Einsicht“ in die zur Last gelegten Taten/Krankheiten, geknüpft. Maßregelvollzug ist ein Aussonderungsort und häufig Endstation für „störende“, „unbequeme“ und „vermeintlich gefährliche“ Menschen. Dabei ist es symptomatisch für unsere Gesellschaft, dass Menschen immer mehr aus ihren sozialen Bezügen heraus fallen und dies so lange nicht interessiert, bis eine Falle – in dem Fall die der forensischen Psychiatrie – zuschnappt. Das ist ein Resultat verfehlter Sozial- und Gesundheitspolitik.Bei „psychischer Störung“ im Zusammenhang mit Delikten lässt sich von einem Paradigmenwechsel sprechen. Im Zweifel für eine angeklagte Person im Zusammenhang einer „psychischen Erkrankung“ bedeutet: im Zweifel gegen die angeklagte Person.
Neben der Forensik als Vollzugsort und dem Gericht, das in die Forensik verurteilt (Strafprozesskammern) und die Aufsicht über die Unterbringung hat (Strafvollstreckungskammern), spielen die vom Gericht bestellten „unabhängigen“ Gutachter*innen eine wesentliche Rolle im „Wegschließ-Kartell“. Sie haben die Aufgabe, festzustellen ob eine Tat in einem nicht schuldfähigen Zustand begangen wurde. Weiterhin besitzen sie die Autorität, Krankheitsverläufe „ zu prophezeien“ und zukünftige Gefährlichkeit zu prognostizieren. Neben dem gängigen Diagnoseinstrument ICD-10 haben sie weitgehend freie Hand betreffs ihrer Methoden und „Mess-instrumente“. So werden neben Gesprächen vermehrt Computer- und „Multiple-Choice Verfahren“ zur Ermittlung bestehender Gefahren eingesetzt. Auch aus Bagatelldelikten kann eine künftige Gefährlichkeit konstruiert werden. Sollte eine zu begutachtende Person sich der Begutachtung verweigern, kann das Gutachten aus Aktenlage geschrieben werden.
Die kritische Psychiaterin Dr. Regina Möckli beschreibt den Gegenstand der forensischen Psychiatrie als „Erziehungscamp“ mit einem „kleinkarierten Tagesablauf“, der auf Repression und Sanktion aufgebaut ist. [8] „Therapeutisch“ ist alles: ob den Tisch abzuwischen, die richtige Kleidung anzuziehen oder sich an Morgenrunden, Stationsversammlungen, Arbeits- und Beschäftigungstherapien zu beteiligen. Erwartet wird, sich anzupassen und mitzumachen bei der vorgesehenen Umprogrammierung. Der Stationsalltag wird vor allem durch das Pflegepersonal beobachtet und dokumentiert. Weiterer Zugriff auf die Gefangenen erfolgt in Einzeltherapien, Bezugsbetreuer-Gesprächen, Fall/ Lockerungskonferenzen, in Oberärzt*innen-Visiten, „Therapiegruppen“ z.b. bei Sucht-Thematik und für Sexualstraftäter*innen. Die wesentliche Therapie besteht in der Verabreichung von (häufig hochdosierten) Psychopharmaka. Ein weiteres Vollzugelement ist das 10-stufige Lockerungssystem, in dem Gefangene erst für kleine, später für größere Zeiträume, zunächst in Begleitung, anschließend alleine sich auf dem Klinikgelände und dann auch außerhalb bewegen dürfen. Zwischen den Lockerungsstufen können Jahre und Jahrzehnte liegen; zurückgestuft wird für was auch immer. Auch gibt es kollektive Rückstufungen. Freizeitgestaltungsmöglichkeit besteht aus täglich einer Stunde Hofgang. Weitere Freizeitmöglichkeiten (in Bremen) sind Kochgruppen, Tischtennis, Billard, wöchentliche Nutzung eines Sportraums und seltene angemeldete Ausflüge für bestimmte „gelockerte“ Gefangene. Anmeldungen für Freizeitangebote sind höchst bürokratisch organisiert. Auch sie werden, um gefügig zu machen, als Sanktions- und Erpressungsmöglichkeit genutzt. Das härteste Repressionsmittel ist die Absonderung in einem Beobachtungsraum/Kriseninterventionsraum. Isolierung in einem speziellen „Sicherungsraum“, in den jederzeit (mit Kameras)das Personal reinschauen kann – meist mit abgeklebten Fenstern, ohne private Gegenstände, ohne Wechselkleidung, ohne Hygieneartikel, häufig ohne Hofgang, ohne Gelegenheit zum Rauchen und weiteren Beschneidungen des Selbst; das gehört zur alltäglichen Lebenssituation der Gefangenen. Häufig dauert das bis zu 5 Tagen (die Praxis zeigt auch längere Absonderungen, mitunter mit Fixierungen.) Vielen Absonderungen fehlt dabei jede Rechtsgrundlage (Absonderung als Sanktion statt als akute Eigen- oder Fremdgefährdung).
Wesentlich für die psychiatrische Herrschaft ist die perfide Nutzung von Sprache. Wegsperren heißt psychiatrisch ausgedrückt „fürsorglicher Freiheitsentzug“ und Zwangsmaßnahmen werden als „fürsorglicher Zwang“ betitelt. Drunter fällt: Zimmergebot, Ausschluss von Freizeitaktivitäten, Arbeit und Therapie, Absonderung, Fixierung, Beobachten bei Nacht, Entzug/Vorenthaltung von Gegenständen, Entzug von Lockerungen und Freigang.
Rahmenbedingungen der forensischen Psychiatrie bieten mit ihrer ungenauen bzw. via Pathologie zu umgehenden Rechtsprechung große Interpretationsspielräume und Platz für Machtmissbrauch und Willkür. Die verschiedenen Leitlinien, Vorschriften, Gesetzestexte (bundesweite Maßregelvollzugesetz, „Psychisch-Kranken-Gesetz“ der Bundesländer) und ein angeblich verzahntes Kontrollsystem bieten Gefangenen keinen Schutz. Aktivist*innen in Bremen haben ein Jahr lang Beschwerden aus der Bremer Forensik evaluiert und ihre Aufarbeitung verfolgt. Diese Begleitung war mehr als ernüchternd. Die vom Senat gesteuerte Besuchskommission bearbeitete z.B. bis Mitte 2017 schriftliche Beschwerden, indem sie sie an die Klinik zur Bearbeitung weiter sendeten. Diese wiederum bügelte die Beschwerden in allen bekannten Fällen ab. „Freundliche“ Antwort der Besuchskommission an die Beschwerdeführer*innen war die Bitte, sich beim nächsten Mal direkt an die Klinik zu wenden! Beschwerden und Strafanzeigen gegen Klinikmitarbeiter*innen, welche ans Gericht gesendet wurden, werden in Bremen so gut wie überhaupt nicht beantwortet. Auch wurde dokumentiert, dass Gefangene mit Repressionen erpresst/sanktioniert wurden, nachdem sie sich beschwerten. Sie sollten verlegt werden und ihnen wurden Aktivitäten verwehrt. Besuchskommission und Senat wurden nicht einmal im Tötungsfall des Insassen Ahmet Agirs tätig.

Fazit
Die Psychiatrie ist eine gefährliche Institution. Ihre vorhandene Allmacht- und Monopolstellung kann keineswegs ihre Legitimation erzeugen, ebenso wenig die Tatsache, dass es „(psychisches) Leiden“ gibt. Psychiatrie präsentiert sich als helfende Instanz. Für viele Erfahrene und Kritiker*innen ist sie Ort der Unterdrückung und Zerstörung. Nicht nur forensische Psychiatrie, ebenso Allgemeinpsychiatrien sind häufig geprägt von einem Klima, in dem „Hilfe/Gesundung“ unmöglich ist. Strukturell organisierte und häufig geleugnete/ als notwendig verkaufte Fremdbestimmung, schädliche Medikamente und Gewalt gehören zum Alltag.
Defizitäre pathologisch-biologische Betrachtungsweisen, wie sie die Psychiatrie vollzieht, verkennt den Menschen in seiner komplexen Identität und Lebenswelt. Über diesen Prozess der Krankschreibung werden „Zustände“/„Symptome“, die aus sozialen Verhältnissen erwachsen, individualisiert, was einen politischen und kollektiven Umgang verhindert bzw. erschwert. Die Vergangenheit, sowie die Gegenwart der Psychiatrie alarmieren, diese Bühnen nicht den „Fachkreisen“ und „Zuständigen“ zu überlassen. Eine Patientenverfügung kann verhindern, sich begutachten und/oder behandeln lassen zu müssen. Es bleibt an uns, der psychiatrischen Macht etwas entgegenzusetzen. Ein Aufruf, die Realität zu dekonstruieren, Psychiatrien und Knäste zum Einsturz bringen.

Vernetzungstreffen zum Thema Zwangspsychiatrie und Forensik-Kritik

Betroffene, Angehörige, Aktivist*innen in verschiedenen Städten bemühen sich, ein Vernetzungstreffen im Herbst zu veranstalten. Rahmen und Ort stehen noch nicht fest. Denkbar wäre ein Wochenende mit viel Zeit und Raum, um in Kontakt zu kommen. Bei Interesse, dieses Vernetzungstreffen mitzuplanen oder einfach nur teilzunehmen, die unten angeführte E-mail Adresse kontaktieren.

Erste Themenvorschläge für ein Vernetzungstreffen

– Aufbau einer funktionierenden Kommunikationsstruktur verschiedener Inhaftierter, Gruppen, Aktivist*innen
– Handlungsstrategien austauschen/ weitere entwickeln
– Informationen zu Gutachter*innen und Anwält*innen zusammentragen
– Welche Rolle spielen Anwält*innen, das Gericht, Behörden, die „Sozialpsychiatrie“? Wie kann mit Gefangenen in Kontakt gekommen werden? Was für Unterstützungen sind notwendig? Was tun, wenn durch Psychiatrie-kritische Aktivitäten Repressionen gegen Inhaftierte gerichtet werden? Wie kann mit transformativer Gerechtigkeit umgegangen werden? Wie können Rückzugsräume/ Unterstützungen aufgebaut werden, die Forensikunterbringungen verhindern?

Kontakt: stattpsychiatrie@riseup.net

[1] Joers (2011): für verrückt erklärt. In: Zeit vom 31.8.11
[2] statistisches Bundesamt, Strafvollstreckungstatistik (Maßregelvollzug 2013/2014)
[3] Bundeszentrale für politische Bildung URL: http://www.bpb.de/apuz/32973/psychiatrische-massregelbehandlung; Zugriff: 21.4.18
[4] Leygraf (1988), Seifert und Leygraf (1997), Kutscher und Seifert (2009); zitiert nach Dönisch-Seidel (2014): S.190. Gemeindepsychiatrie- die Forensik der Zukunft?
[5] Schalast (2014): S.181 ff. In: Aggression, Gewalt und die Psychiatrie.
[6] Haarnagel (2016): aus In den Fängen der Psychiatrie; ODYSSO (2016): Wissen im SWR. URL: www.youtube.com/watch?v=OTYpdJXrmpo. Zugriff: 4.12.17.
[7] Spengler (2004): Maßregelvollzug: Ungebremster Zuwachs. In: Ärzteblatt. 101(41): A-2730 / B-2301 / C-2208
[8] Möckli: In: Hoffmann (2015): Die forensische Psychiatrie ist irrsinnig geworden! URL: www.youtube.com/watch?v=QgP6eV-6Uk0. Zugriff: 18.12.17.