„…weil freiheit nur möglich ist – im kampf um befreiung“

Siempre*Antifa Frankfurt

„Praxislos ist die Lektüre des »Kapital« nichts als bürgerliches Studium. Praxislos sind programmatische Erklärungen nur Geschwätz. Theoretisch den Standpunkt des Proletariats einnehmen, heißt ihn praktisch einnehmen.“ (Aus: Das Konzept Stadtguerilla, 1971)

Psychologische Kriegsführung

In diesem Herbst jährt sich die Todesnacht von Stammheim zum vierzigsten Mal. Wie bei jeder solchen Gelegenheit wird der Versuch, revolutionäre Politik in der BRD bewaffnet durchzuführen, medial erneut denunziert, diskreditiert und, wahlweise als terroristisch, kriminell oder psychopathologisch diffamiert. Die dabei verwendete Methodik zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie die Ereignisse aus dem historischen (NS-Nachfolgestaat BRD, Notstandsgesetze, APO), gesellschaftlichen (Klassengesellschaft, Imperialismus, Antikommunismus) und internationalen Kontext (Aufbruch durch weltweite Befreiungsbewegungen) löst und mit Psychologisierung, Personalisierung und Entpolitisierung arbeitet. Die Rote Armee Fraktion hat dies in einer ihrer Schriften psychologische Kriegsführung genannt [1977: 116]. Es ist also wichtig, aus heutiger Perspektive im Kampf um die Deutungshoheit dem herrschenden, bis weit ins linke Spektrum hineinreichenden Geschichtsbild ein eigenes entgegenzusetzen. Revolutionäre Geschichte müssen wir uns kritisch, aber selbstbewusst aneignen, um aus den Erfahrungen, den Erfolgen wie den Irrtümern, für gegenwärtige Kämpfe und künftige Strategien zu lernen. Daher möchten wir benennen, für was die RAF ursprünglich stand und was daran für uns heute wichtig bleibt.

Theorie und Praxis

Die RAF, das waren GenossInnen, die den Bruch mit der bürgerlichen Existenz unversöhnlich vollzogen, die alles aufgaben und riskierten, um sich entschlossen ihrer Vorstellung vom revolutionären Kampf zu widmen. Ihr Primat der Praxis [1977: 349ff] bleibt ein Bezugspunkt, weil das Organisationskonzept nicht von den Ideen her gedacht wird und das Theorieverständnis ein orientierendes und anleitendes ist, dessen Überprüfungskriterium in der wirklichen Praxis liegt. Schließlich kommt es mit Marx auf die Veränderung der Welt an, nicht auf ihre Interpretation allein. Für die „neue Linke“ seit dem 1960er Jahren lässt sich insgesamt hingegen sowohl die Verwendung eines eher akademischen Theoriebegriffs feststellen, der den Weg zur Praxis versperrt, und unter anderem dadurch bedingt ein deutliches Übergewicht an Theoriearbeit, als auch die Rückläufigkeit von Politikansätzen, welche die strategische und kollektive Bestimmung der eigenen Lebensweise als Terrain des Kampfes beinhalten. Die RAF bildete hier insofern eine Ausnahme, als sie konsequent das aus ihrer Analyse sich ergebende auch umsetzte.

Politische und militärische Organisation

Auch in der Organisationsform wurde dieser Ansatz berücksichtigt: so soll eine Organisation nicht aus einer gemeinsamen Programmatik heraus, sondern durch praktische Intervention in konkreten Kämpfen entstehen [1977: 351]. So wurde die RAF zum am weitesten entwickelten militärischen Widerstand gegen das imperialistische System in seinem Zentrum BRD. Kritisch ist sicher der Vorrang des militärischen Arms über den politischen, bzw. dessen vollständiges Fehlen zu sehen, weil bedingt durch die reine Illegalität, die Gegenmaßnahmen des Staates – wie Desinformation, Liquidierung der Kader, Trennung der Guerilla von ihrer Basis (Parallelen zum US-amerikanischen Aufstandsbekämpfungsprogramm COINTELPRO sind überdeutlich) und das hohe, nicht unmittelbar anschlussfähige Aktionsniveau – keine Massenbasis entstehen konnte. Auch als das Konzept in den 1980er Jahren um die Verbindung zu anderen militanten Widerstandsformen zu erweitern versucht wurde, blieb es auf die bewaffnete Guerilla zentriert. Die RAF nannte das selbst im Rückblick einen strategischen Fehler [1998: 6, vgl. 1992: 2ff].

Strategie und Avantgarde

Anders als oft behauptet, verfolgte die RAF anfangs durchaus eine sozialrevolutionäre Strategie. In bestehende Kämpfe sollte bewaffnet eingegriffen werden, um die politische Basisarbeit in Stadtteil und Betrieb voranzubringen [1977: 342, 358, 374]. Die Verbindung von beiden galt gewissermaßen als Erfolgskriterium. Dabei war durchaus Organisierung und nicht spontane Mobilisierung angedacht. Die RAF wollte nicht opportunistisch einfach dem falschen Bewusstsein der Bevölkerung hinterherlaufen, sondern diese sollte durch ihre Aktionen einen Weg erkennen, wie sich das System bekämpfen lässt [1977: 252]. Sie verstand das als Orientierung durch Initiative [vgl. 1977: 356]. Insofern sah sie sich in der Rolle einer Avantgarde, als sie Vorreiterin und bewusstester Teil der sozialen Kämpfe sein wollte. Einen proletarischen Standpunkt einnehmen hieß für die RAF folgerichtig also nicht, „dem vom Imperialismus beherrschten Volk in den Arsch zu kriechen, sondern den Imperialismus [zu] bekämpfen, der das Volk beherrscht“ [1977: 424].
Klassenfrage und soziale Verhältnisse
Wesentlicher Ausgangspunkt war für die RAF, wie für uns heute auch, die soziale Frage. Die sozialen Verhältnisse im Kapitalismus kritisierte sie schonungslos, vor allem, da diese „trotz höchster Technisierung und größtem Reichtum“ [1977: 70] vorhanden sind, was heute umso mehr zutrifft. Sie erweiterte den Begriff der Verelendung um eine psychische Dimension, [1977: 66, 393ff, 430ff], die uns erforderlich scheint, um zu verstehen, was das System im Inneren der Menschen anrichtet. Schon damals sprach die RAF vom „24-Std.-tag der Herrschaft des Systems“ [1977: 431f], dessen Perfektionierung wir seitdem durch immer neue Überwachungs- und Kontrolltechnologien sowie die tendenzielle Aufhebung der Trennung von Arbeit und Freizeit beständig beobachten. Außer der Stellung im Produktionsprozess zählte für die RAF auch deshalb wohl die subjektive Seite, das revolutionäre Bewusstsein und die Verweigerung [1977: 352, 400f], sehr stark, weil die Durchdringung der Menschen durch das System ein maßgebliches Hindernis für linke Politik ist. Diese Ergänzung ist für uns bedeutend, weil objektive Klassenlagen alleine keine handelnden Subjekte konstituieren [vgl. 1977: 394] und weil es im Prozess der Auseinandersetzung auch um Selbstveränderung geht. Neben dem klassischen Proletariat hatte die RAF entsprechend ein besonderes Augenmerk auf Randgruppen, auf die besonders Unterdrückten und Deklassierten gelegt, was aufgrund der ökonomischen Entwicklung („Prekariat“, „Surplus-Bevölkerung“) heute aktueller denn je erscheint. Zunehmend legte sie ihren Fokus auch auf die Menschen im Trikont [1977: 432]; dorthin, wo sich heute der überwiegende Anteil der weltweiten ArbeiterInnenklasse befindet.

Internationalismus

Seit ihren Anfängen begriff sich die RAF als Teil einer internationalen Bewegung im weltweiten Kampf, was schon in der Namensgebung Fraktion ausgedrückt war. Ihr gelebter Internationalismus bleibt wegweisend: „Nationale Befreiung“ lehnte sie aus strategischen, perspektivischen und historischen Gründen ab, was sich mit einer frühen und fortschrittlichen Kritik des Nationalstaats sowie linker Vorstellungen, die sich illusorisch an ihn knüpften, verband [1977: 64f, 261, 347f, 372f]. Praktisch wollte die RAF die Verbrechen des Imperialismus, z.B. die genozidale Kriegsführung in Vietnam, nicht länger tatenlos hinnehmen, sondern griff das US-Militär auch hier, in dessen Hinterland, an, z.B. während der „Mai-Offensive“ 1972 mit den beiden Aktionen in Frankfurt und Heidelberg, zwei Sabotageaktionen gegen die imperialistische Kriegsmaschinerie. Eine antiimperialistische Ausrichtung zu verfolgen, bedeutet für uns heute noch, Befreiung jenseits von Grenzen als Bezugsrahmen zu denken, zumal heute wie damals identische Staaten und Unternehmen hier wie im Trikont als Ausbeuter und Unterdrücker agieren [1977: 391f]; eine Tendenz, die sich seither durch die Trans- und Supranationalisierung von Kapital und Institutionen noch verstärkt hat. Inhaltlich heißt das, da wir auch weiterhin soziale Revolution und Antiimperialismus als zusammenhängend begreifen, dass beide auch in der eigenen Politik einen nachvollziehbaren Ausdruck finden, was bei der RAF durch die zunehmende Konzentration auf den militärisch-industriellen Komplex immer weniger der Fall war [vgl. 1998: 4].

Legalität und Repression

Die RAF kritisierte dezidiert den Legalitätsfetisch vieler Linker und stellte klar, dass „Legalität letztlich eine Machtfrage“ [1977: 362] ist, dass legal verhaftet, abgehört, kontrolliert, befragt, observiert wird. Damit wird, neben objektiven Notwendigkeiten, sehr deutlich das Moment der Selbstbestimmtheit in der Wahl der Mittel herausgestellt. Uns ist wichtig, herauszustellen, dass wir uns unsere Mittel nicht vom Gegner diktieren lassen können, wenn wir dessen Macht zersetzen wollen, während in der Linken vorhandene bürgerliche Illusionen diese stützen. Entsprechend teilen wir die Sicht auf das staatliche Gewaltmonopol und die daraus folgende Repression (bestimmt nach der Methodik der counter insurgency) als Bedingung einer permanent und systematisch fortschreitenden Konterrevolution [1977: 389f, 400]. Ergänzt wird Repression um Maßnahmen der Integration [1977: 343f, 362ff], die andere Seite bürgerlicher Herrschaft. Die zuweilen verbreitete Annahme, die Guerilla habe die staatliche Aufrüstung durch ihr Vorgehen erst provoziert, ist abwegig: Gerade in Zeiten, in denen die revolutionäre Bewegung schwach ist, findet diese oft präventiv und besonders massiv statt. Die benutzten Begründungen können wechseln, sind aber immer bezogen auf die Logik der Feinderklärung als Bedrohung der inneren „Sicherheit“. Die Feinderklärung betrifft jede Form des Widerständigen, wird aber immer weiter ins Vorfeld verschoben: damals der bewaffnete Kampf und heute die G20 Proteste. Nicht zuletzt deshalb ist die kritische Aneignung linker Geschichte so wichtig. Der wichtigste Bezugspunkt und ein bleibendes Verdienst der RAF ist es, Funktion und Arbeitsweise der Staatsschutz- und Repressionsapparate scharfsichtig mit unbedingter Radikalität auf den Begriff gebracht zu haben. In Zeiten des permanenten Ausnahmezustands, und allerspätestens nach G20, sollte die notorische Aktualität dieser Aspekte jeder heutigen AktivistIn klar werden.

Kontinuität der Kämpfe

Die radikale Linke, die oft aufgrund der eigenen Schwäche Forderungen ohne Nachdruck aufstellt, hatte mit der RAF – und den beiden anderen Stadtguerillagruppen „Bewegung 2. Juni“ und „Revolutionäre Zellen“ – einen bewaffneten Arm hinter sich, der über stärkere Durchsetzungsmöglichkeiten verfügte. Die RAF war als „revolutionäre Interventionsmethode von insgesamt schwachen Kräften“ [1977: 356] angetreten, um den „Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören“ [1977: 357]. Dadurch, dass sie die Gewalt in den Apparat, zu ihrem Ausgangsort, zurücktrug, zeigte sie den Repräsentanten der Herrschaft, dass ihr Handeln nicht ohne Konsequenzen bleibt. Da ihr Gewalteinsatz sich zumeist selektiv gegen hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft sowie Militärs und nicht gegen die Bevölkerung richtete, ist ihre Strategie auch niemals eine terroristische gewesen, für die die Erzeugung von Angst und Schrecken im Vordergrund steht. Zur Entwicklung des bewaffneten Kampfes lässt sich rückblickend sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat auf einer technisch-militärischen Ebene nicht zu gewinnen war, zumal das eigene Mobilisierungspotential überschätzt wurde. Daher müssen auf die Focustheorie zurückgehende Strategien zwar als gescheitert angesehen werden, aber ohne diese Versuche wäre die Linke heute nicht da, wo sie ist. Es sind in der aktuellen Periode der Kämpfe auch nicht so sehr die Fragen der Bewaffnung als solche Eigenschaften wie Entschlossenheit, Klarsichtigkeit, Risikobereitschaft und konsequente Haltung, die der Linken als Orientierungspunkt dienen könnten. Für uns ist gegenwärtig noch ein weiterer Aspekt bedeutsam, den die RAF angedacht hatte, selbst aber nicht umsetzen konnte: Militanz, Organisierung und Massenhaftigkeit soweit als möglich aufeinander zu beziehen und eine entsprechende Perspektive zu entwickeln. Gerade weil bürgerliche Herrschaft sachlich vermittelt ist, ist, um das Kräfteverhältnis hin zu einer revolutionären Massenbasis zu verändern, neben Militanz der Aufbau von Gegenmacht notwendig – dieser Begriff taucht in den späteren RAF-Texten, vor allem ab Anfang der 1990er Jahre, vermehrt auf. Es bleibt eine schwierige Notwendigkeit, einen radikal antagonistischen Standpunkt einzunehmen und zugleich die eigene Basis zu verbreitern. Mit den gesellschaftlichen Widersprüchen sind viele der Fragestellungen der RAF somit weiterhin aktuell, und wir werden gemeinsam eigene Antworten darauf finden müssen. Zumal die Konterrevolution weiter voranschreitet, Ausbeutung, Faschisierung und imperialistische Aggression seit jener Zeit drastisch verschärft wurden. Der Kapitalismus schafft so in seiner Inhumanität aber auch täglich neue Legitimationen für unseren Widerstand. Heraus aus der Defensive bleibt also die einzulösende Devise.

Verwendete Literatur
RAF Auflösungserklärung 1998:http://www.socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019980300_2.pdf
RAF-Brief 1992: http://www.socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019920800_01_0.pdf
texte: der RAF, Malmö 1977: http://www.socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019771000_01_0.pdf