Im März 2017 wurde Marco Camenisch nach über 25 Jahren aus dem Knast entlassen. Wir haben uns mit ihm über Etappen seines intensiven politischen Lebens unterhalten.
Aus: aufbau 90
Du bist in Graubünden aufgewachsen, in einem kleinbäuerlichen und kleinbürgerlichen Umfeld. Wie hast du dich in diesem Milieu politisiert?
Ich bin in der Nachkriegszeit aufgewachsen, als der Holocaust und Auschwitz sehr präsent waren. Meine Mutter war diejenige, die in der Familie Bildung betrieben und mir die Bücher nahegebracht hat. Sie hat sehr darauf geachtet, dass keine antisemitischen Sprüche und Stammtischfloskeln geäussert wurden. Ich las bereits bevor ich zur Schule ging die Geschichten von den Partisanen und den Partisaninnen aus Italien. Der kleine feine Unterschied zwischen den Partisanen und den militärischen Verbänden der Alliierten fiel mir auf. Das selbstbestimmte Auftreten der PartisanInnen hat sehr viel mehr nach Freiheit ausgesehen, als der Stechschritt der Deutschen, Briten, Amerikaner oder Russen.
Ich war immer aufmerksam für die Dinge, die vor den eigenen Füssen passieren. In der Mittelschule in Schiers waren die Bezugspunkte die jüngeren Leute, die mit dem Schützenverein oder der Freikirche nichts am Hut hatten. Ich war damals im Internat und der Linkstrend der 68iger Zeit und der Vietnamkrieg waren prägend. Später dann für eine kurze Zeit die Publikationen der Erklärung von Bern zu den Multis und der Situation in Südafrika. Brennpunkte waren zudem die Kämpfe in El Salvador und Nicaragua, ähnlich wie heute Rojava, und die Anti-AKW-Bewegung. Eine Praxis, die über den Reformismus hinausging, gab es hier allerdings noch nicht.
Von der Beschäftigung mit den Schriften der Erklärung von Bern bis zu Aufnahme des bewaffneten Kampfes ist es ein weiter Weg.
Es war eine kurze Episode. Der klassenkämpferische Aspekt fehlte mir. Es gibt in diesen Zusammenhängen anständige Leute, aber irgendwann fangen sie an, sich mit dem Gift des Pazifismus zu belügen. Ich habe ein paar Flugis verteilt. Demonstrationen waren für mich wichtig und unersetzlich, aber für meine Bedürfnisse eher wirkungslos und reformistisches Terrain. Ich fieberte mit den Demos mit, ging aber nicht dorthin, weil ich meine Prioritäten anders setzte und weit weg auf dem Land von der Land- und Alpwirtschaft lebte. Der Gesamtwiderstand und die Solidarität mit den verschiedenen Methoden des Widerstands sind wichtig. Du musst erkennen, dass im Kampf gegen ein System, das zu allen Schandtaten und zum Genozid bereit ist, das Wichtigste fehlt, wenn es keine bewaffnete Organisierung gibt.
Wie wichtig war für dich damals die Erfahrung der RAF, der Brigate Rosse oder der Bewegung 2. Juni?
Diese Projekte waren wichtig und gehörten zur Perspektive dieser Zeit. Es war egal, ob das ehrliche kommunistische RevolutionärInnen oder AnarchistInnen waren. Man fühlte sich ihnen viel näher als anderen Kräften. Die Reaktionen im Hinterland und noch mehr in den Metropolen waren getragen von einem Ausdruck der Wut. Viele Leute waren etwas naiv und dachten, irgendwann kommt der grosse Chlapf. Dieser kommt nicht von allein. Die Wahrheit ist revolutionär. Die Gesellschaft ist im Krieg, und der bewaffnete Kampf ist ein bewusstes Mittel, um die gesellschaftliche Lähmung und die Angst zu durchbrechen. Das heisst nicht, dass man hirnrissige Sachen machen soll. Wie schon Clausewitz erkannte, ist der bewaffnete Kampf für das Kräfteverhältnis in bestimmten Phasen sehr wichtig, auch wenn es dabei zu einem gewissen Spezialistentum kommt. Wir wollten einen Kampf, den die Leute verstehen und der sie mobilisiert.
Wie war die Reaktion der Bewegung als du damals nach dem Anschlag auf die Strommasten verhaftet wurdest?
Die Reaktion war zunächst vorsichtig. Man hatte sich gefragt, was das für Leute seien. Damals gab es zum Beispiel im Südtirol eine Unabhängigkeitsbewegung, die sich von Italien lösen wollte, faschistoide Züge trug und die auch auf Strommasten losgegangen war. Die Bewegung von Chur, Zürich und Basel nahm jedoch schnell Notiz. Als die Solidaritätsbewegung reagierte, begann ich die Prinzipien der Bewegung zu übernehmen und stoppte jegliche Aussagen zu den Aktionen. Ja, und dann begann das Politgeschäft.
Nach dem Ausbruch aus dem Knast in Regensdorf hast du 10 Jahre in der Illegalität gelebt. Du hast erzählt, dass du in dieser Zeit die grösste Freiheit erlebt hast. Illegalität und Freiheit, ist das nicht ein Widerspruch?
Wenn du dich im Kampf gegen diese Gesellschaft, gegen die Sklaverei und die Unterwerfung, befindest, ist der bewaffnete Kampf der höchste Ausdruck dieses Kampfes. Das ist von der Motivation her die höchste Freiheit, ohne die Einschränkungen eines Militarismus der Herrschenden. Du musst die Leute einschätzen können, bist aber frei in den Entscheidungen der Wahl der KomplizInnen.
Geht es um die Freiheit, ausserhalb des Staates zu leben, sich dessen Zugriff zu entziehen und ungebunden gegen den Staat zu kämpfen?
Ja, du bist vogelfrei, was der Gegensatz von «abgerichtet» bedeutet. Du musst Einschränkungen in Kauf nehmen und aufmerksam sein. Wenn in einer Stadt ab 20 Uhr ein Ausgehverbot herrscht und du bei dessen Missachtung erschossen wirst, gehst du nicht hinaus. Das ist eine Einschränkung. Aber niemand diktiert dir, was und wie du etwas tust. Du suchst dir selber das Rückzugsgebiet. Wenn man «Freiheit» allerdings mit Abhängigkeiten verwechselt, die systemisch gegeben sind, dann könnte man von Einschränkungen sprechen. Du hat keinen Pass und kannst nicht einfach zum Passbüro gehen, sondern musst dir einen anderweitig beschaffen. Doch solange du den Staat angreifst, ist er der Gesuchte, nicht du. Du kämpfst gegen ihn, weil du keine Angst mehr vor ihm hast. Das hängt vor allem mit dem Bewusstseinsprozess zusammen. Je selbstverständlicher dir der Kampf mit all seinen Konsequenzen ist, um so freier bist du.
Du bist in Italien verhaftet worden und warst bis 2003 in Italien im Knast, bevor du in die Schweiz ausgeliefert worden bist. Wie hast du den Knast erlebt?
In Italien war der Knast fast ein Paradies im Vergleich zu den Verhältnissen in der Schweiz, vor allem was das Kollektiv angeht. Innerhalb der Mauern konnte man sich weitgehendst selber organisieren. Ich konnte aussergewöhnliche Leute der Brigate Rosse kennenlernen. Einige waren Kader gewesen, aber sie haben das nicht ausgespielt. Wir haben gemeinsam studiert und diskutiert, obwohl die Leute der verschiedenen Organisationen vielfach unterschiedlich waren. Das war schon fast harmonisch. Es hat Spaltungen gegeben, aber ich habe nie grössere Feindschaften erlebt. Wenn du eine solche Einschränkung solidarisch und aufmerksam im Kollektiv bewältigen kannst, hat es selbst in einem kleinen Hof Platz für alle. Das Erleben dieses Kollektivs war eine der schönsten Erfahrungen dieser Zeit. Du lernst dich selber zu behaupten, aber zuerst kam das Miteinander. In der Schweiz war das anders. In der Schweiz sind die Knäste sehr durchmischt und du musst auch mit sehr inkompatiblen Leuten, mit wenig Sinn für Kollektivität und Solidarität, zu Rande kommen.
Du hast in der Schweiz mit Leuten wie Hugo Portmann gesessen, die nicht politisch sind, aber doch ein gewisses Bewusstsein und eine Ethik haben. Gab es da Anknüpfungspunkte?
Die Zeiten mit Leuten wie Hugo waren in den Schweizer Knästen die positivsten Erfahrungen. Er verkörpert die alte Schule, die noch von den früheren Revolten schwärmt und sich im Knast solidarisch verhält. In Leuten wie ihm konntest du dich finden, was das Verhalten anbelangt: Rücksichtnahme, gegenseitige Unterstützung, den Schwächeren wenn nötig aus Schwierigkeiten helfen, und denjenigen, die meinen, sie müssten andere unterdrücken, deutlich machen, dass das so nicht geht. Das Zusammengehen mit anderen Gefangenen der alten Schule war aber oftmals beschränkt auf diese Dinge, ansonsten musste man sich gut erklären und festhalten, dass zum Beispiel Sexismus und Rassismus nicht drin liegt, weil man ansonsten nicht mehr zusammensitzen könnte. Und das funktionierte, weil: Wenn man sich im Knast streiten muss, zieht jeder den Kürzeren.
Wie hast du die Verbindung zwischen drinnen und draussen wahrgenommen?
Du überlebst im Knast nur, wenn du mit dem Kopf draussen bleibst. Der Knast ist ein lebensfeindlicher Ort. Die Praxis fehlt, das ist klar. Das gilt für die schweizerischen wie für die italienischen Verhältnisse, auch wenn das Kollektiv gegen innen eine positive Wirkung hat. Wenn Du dich abschotten lässt, deine Interessen und dein Denken nicht mehr solidarisch nach draussen kommunizierst, überlebst du nicht. Drinnen und draussen sind zwei Orte, die voneinander getrennt, aber durch die revolutionäre Solidarität eng miteinander verbunden sind.
Seit einigen Monaten bist du nicht mehr im Knast. Wie überlebt man draussen?
Während der Knastzeit verlor ich meine Gelassenheit nie. Jetzt, draussen, suche ich sie noch. Das ist ein extremer Rückschritt. Es war eine Freilassung in den Hofgang des Kapitalismus. Natürlich hast du im bewaffneten Kampf Stress, aber die Voraussetzungen im sozialen Umfeld und in den Beziehungen sind viel gesünder. So vielen Leuten geht es heute schlecht. Das zu sehen, macht mir zu schaffen. Wenn du im bewaffneten Kampf bist, dann orientierst du dich am echten Widerspruch der Gesellschaft und die reale Problemlösung steht im Vordergrund. Der Alltag hingegen ist Stress pur, weil das Unterordnungsverhältnis, das sich immer wieder reproduziert, dass du immer wieder reproduzieren musst, krank macht. Du bist nur vermeintlich frei in deinen Entscheidungen.