Reisebericht zur Prozessbeobachtung im Verfahren gegen Anwälte vom „Halkin Hukuk Bürosu“ (Anwaltskollektiv des Volkes)

Am 9.9.2018 ging es los in die Türkei. Um 5:55 kam ich nun in Istanbul „Atatürk“ an. Eigentlich sollte dort ein Genosse auf mich warten, doch niemand war zu sehen. Nach einem kurzen Telefonat kam der Genosse, um mich abzuholen. Gut 20 Minuten dauerte die Autofahrt in den Stadtteil Armutlu. Dort lag das Soziales Zentrum, wo das 9. Symposion der „Anti-Imperialistischen Front“ stattfand.
Auf dem Gelände stand ein alevitisches Gotteshaus (Cemevi), Versammlungsräume, Küche, Speisesaal und auch Räume für spätere Schulklassen. Dieses Projekt wurde von revolutionären Architekten und Ingenieure geplant und zusammen mit den BewohnerInnen des Viertels gebaut. Es ist ein wichtiges Projekt für Armutlu, wurde mir von den GenossInnen erklärt. Weil die Bildung hier sehr schlecht sei, wollen sie in den verfügbaren Räumen die Möglichkeit schaffen, Kinder zu unterrichten. Dort finden auch die Stadtteilversammlungen statt. Leider ist das Gebäude nie richtig fertig gestellt worden, weil die Menschen dort harter Repression ausgesetzt sind. Die meisten ihrer Architekten und auch viele ArbeiterInnen befinden sich im Knast.
Armutlu ist ein sehr widerständiges Viertel mit einer langen revolutionären Geschichte. Das Viertel wurde von den Menschen selber aufgebaut, die sich dort niederließen. Die meisten Menschen sind arm. Die Häuser haben keine Besitzurkunden. Wenn Gebäude leer stehen, wird von der Gemeinschaft geregelt, was damit passiert.
Natürlich ist dies dem türkischen Staat ein Dorn im Auge. Das Viertel soll gentrifiziert werden. Um es direkt auf den Punkt zu bringen soll es platt gemacht werden, um neue Häuser für die Reichen darauf zu bauen. Da Armutlu auf einem Hügel und direkt am Bospurus liegt, soll es zahlungskräftige Kunden anlocken. Die Kapitalisten probieren mit Hilfe der faschistischen Regierung und den mörderischen Bullen die Menschen einzuschüchtern. Doch die BewohnerInnen, die seit Generation dort leben, wehren sich zusammen mit den Revolutionären dagegen. Die meisten Menschen im Viertel sind organisiert. Sie klären ihre Probleme ohne staatliche Institutionen. Dafür gibt es die Stadteilversammlungen, in denen das Zusammenleben organisiert wird. Am ersten Tag meiner Reise war das 9. Symposium der antiimperialistischen Front bereits seit einem Tag im Gang. Nach einer kurzen Führung übers Gelände ging es gegen kurz nach 11 Uhr los. Die Beiträge behandelten Themen wie die Einheit der Unterdrückten im Kampf gegen Imperialismus, Ziele und Aufgaben revolutionärer Kämpfe usw. Der Raum war gut gefüllt und es waren auch GenossInnen aus verschiedenen Länder wie Griechenland, Italien, Bulgarien usw. anwesend.
Zwischendurch gab es ein kleines Grup Yorum Konzert. Es wurde ausgiebig getanzt und gesungen. Jede/r in diesem Raum hat sich von der revolutionären Energie anstecken lassen, bis fast alle TeilnehmerInnen mit im Kreis getanzt haben. Der Abend wurde noch lang. Bei einem gemeinsamen Essen wurde sich ausgiebig unterhalten, später gab es ein kurzes Vernetzungstreffen. In der Nacht ging es dann zum Schlafplatz, wo auch schon die Gastfamilie wartet. Die Gastgeberin hat uns viel über ihr Leben im Viertel erzählt und auch wie wichtig der Widerstand ist. Sie lebt mit ihrer Tochter und ihrem Mann zusammen. Ihre beiden Söhne sitzen lebenslänglich im Gefängnis, wegen Mitgliedschaft in der DHKP-C. Trotz des schweren Verlustes ihrer Söhne und dem enormen Repressionsdruck leistet die Familie weiterhin Widerstand.
Um 7.00 Uhr in der Früh war die Nacht auch schon wieder vorbei. Nach Zwei Keksen und einer Tasse Kaffee gingen wir auch gleich ins Kulturzentrum, wo wir uns mit den anderen GenossInnen getroffen haben, um gemeinsam zum Gericht zu fahren. Gegen 9:00 Uhr sind wir dann losgefahren mit einem alten Transporter, auf dessen Ladefläche eine paar Stühle hingestellt wurden, was natürlich für eine lustige Hin- und Rückfahrt sorgte. Vor dem Gerichtsgebäude warteten auch schon weitere GenossInnen, FreundInnen, AnwältInnen und andere solidarische Menschen. Auch die Bullen waren schon vor Ort mit mehreren Panzerwagen, Wasserwerfern und zwei Bussen mit Riotcops und reichlich Zivicops, die sich unter die Menschen gemischt haben. Vor der Einfahrt von dem Gerichtsgebäude gab es eine Presseerklärung. Auch da zeigten sich Menschen mit den Angehörigen solidarisch. Es wurden Fotos von den Inhaftierten des AnwältInnenkollektivs gezeigt. Auf zwei weiteren Transparenten wurde ihre Freilassung gefordert und auch durch Parolen lautstark zum Ausdruck gebracht. Einige Journalisten waren vor Ort und ein paar Unterstützerinnen gaben eine kurze Erklärung über den Fall ab.
Dann gingen wir alle gemeinsam in das Gerichtsgebäude. Nach ein paar Minuten Schlange stehen und einer Sicherheitskontrolle waren wir nun alle im Gebäude und es begann die Suche nach dem Saal. Auf einmal standen wir vor einer Reihe Securities und dahinter gleich ein Haufen Riotcops mit Schildern. Es hieß, wir dürfen erst weiter, wenn der Prozess beginnt. Wir konnten die Tür vom Saal sehen und so die angeklagten AnwältInnen solidarisch begrüßen, als sie zum Saal geführt wurden. Der Prozess sollte eigentlich schon um 10:00 Uhr losgehen. Nach gut zwei Stunden Warten durften wir dann weiter Richtung Saal, wo auch schon die nächste Kontrolle auf uns wartete. Diesmal wollten sie von allen die Ausweise sehen und nochmal in die Tasche gucken.
Der Saal war voll. Um die 200 Menschen haben den Prozess begleitet und ihre Solidarität ausgedrückt. Darunter waren viele AnwältInnen aus verschiedenen Ländern. Auch eine internationale Delegation war vor Ort, um den Prozess zu beobachten. Vor Gericht stehen 18 AnwältInnen von der „Halkin Hukuk Bürosu“ (Anwaltskollektiv des Volkes), denen die türkische Staatsanwaltschaft Unterstützung einer terroristischen Organisation vorwirft, der DHKP-C. Sie wurden durch Klatschen und Parolen begrüßt. Leider kann ich zu dem Prozess nicht viel erzählen, wegen der Schwierigkeiten der Übersetzung. Was ich mitbekommen habe ist, dass alle angeklagten AnwältInnen eine kämpferische Erklärung abgegeben haben. Einem Angeklagten wurde an den Haaren gezogen, weil er mit seiner Frau sprechen wollte, die ebenfalls auf der Anklagebank saß. Daraufhin ist es zu Protesten der anderen Angeklagten, AnwältInnen und Angehörigen gekommen. Die Mutter eines Angeklagten wurde vom Gericht des Saales verwiesen.
So gegen etwa 18:00 Uhr sind wir wieder gemeinsam ins Kulturzentrum gefahren. Dort haben wir gemeinsam Abendbrot gegessen und bei einer spannenden Unterhaltung den Tag ausklingen lassen.
Auch am dritten Tag war die Nacht wieder schnell vorbei. Wir haben uns schon um 8:00 Uhr im Kulturzentrum getroffen, um gemeinsam ein weiteres Kulturzentrum, das „IDIL“ zu besuchen. Dieses befindet sich im Stadtteil Okmeydani, ein weiteres Viertel mit einer langen revolutionären Tradition. Gekennzeichnet ist das Straßenbild vor allem mit Plakaten, Parolen und Erinnerungen an die Gefallenen des eigenen revolutionären Kampfes.
Dort haben wir das gemeinsame Frühstück vorbereitet. Währenddessen kamen immer mehr Menschen. Wir haben dann gemeinsam gegessen. Dort hat mich ein Genosse in meinem Alter auf Deutsch angesprochen. Er hat mir erzählt, dass er in der Schweiz aufgewachsen ist und seit einem Jahr in der Türkei lebe, weil er hier studieren wollte. Daraus ist allerdings nichts geworden, weil er willkürlich in Untersuchungshaft saß und deswegen ein Berufs-/ Studienverbot bekommen hat. Mit dem Genossen war es mir dann auch möglich tiefergehende Gespräche und Diskussionen zu führen, was mir auf Grund meiner sagen wir mangelnden Englischkenntnisse bis dahin schwer fiel. Unsere Unterhaltungen drehten sich um Themen wie das Leben in ständigem Widerstand, Klassenkampf und kommunistische Theorien, den kurdischen Befreiungskampf und vieles mehr. Sehr erfrischend und ich konnte einige Dinge dazu lernen.
Danach ging es zurück nach Armutlu und von dort aus ins Zentrum, wo uns die jüngeren GenossInnen ihre Lieblingsplätze am Bospurus zeigten. Einer der Jugendlichen erzählte mir, dass er gerne zum Gitarre spielen zum Bospurus kommt. Er findet der Ort hat etwas magisches.
Am nächsten Morgen konnte ich etwas länger schlafen. Gleich nach dem Aufstehen ging es wieder ins Kulturzentrum. Nach dem Frühstück gab es eine Führung durch Armutlu. Dabei wurde mir ein Haus gezeigt, in dem ein Drogendealer gewohnt hat. Er hat trotz der Warnung der Revolutionäre weiter gedealt und wurde exekutiert. Das Haus wurde zerstört und als Warnung brach liegen gelassen. Die GenossInnen erklärten, die Drogen dienen dem Feind dazu die rebellischen Viertel von innen zu zerstören. Sie müssten so hart vorgehen. Auch den Volksgarten, der fast neben dem Zentrum lag, haben wir besucht. Auch dies sei ein wichtiges Projekt. Sie bauen dort nicht nur Gemüse und Obst für Menschen ohne Einkommen an, sondern stellen auch Saatgut her für die Gärten der Menschen im Viertel. Anschließend ging es zum Mittag-essen zu einer Familie, die 2015 durch ein Erschießungskommando der Bullen bei einer Razzia ihre Tochter verloren haben. Als mein Übersetzer los musste, kam die Familie auf die Idee ihre Schwägerin in Deutschland anzurufen. Dadurch hatten wir die Möglichkeit uns weiter zu unterhalten. Sie erzählten mir, dass der Familie vom Staat die Ausweise abgenommen wurden und sie nicht mehr ausreisen dürfen. Sie werden auch weiter hin öfters von den Bullen mit gewaltsamen Razzien „besucht“. Dies dient zur Einschüchterung und soll die Familie vertreiben. Wobei ein Genosse meinte, dass vertreiben noch untertrieben ist, weil viele Menschen umgebracht werden. Die Familie erzählt aber auch, wie stark der Zusammenhalt im Viertel ist und der Staat sie hier nicht weg bekommt.
Wie schon erwähnt hat Armutlu eine lange Widerstandsgeschichte. Seit etwa 7 Jahren gibt es in dem Viertel eine Bullenstation, die unter massiven bewaffneten Auseinandersetzungen gebaut wurde. Auch in diesem Viertel trauen sich die Cops nur mit Panzerwagen und schwer bewaffnet durch. Es kommt häufig zu Übergriffen der Bullen gegen ViertelbewohnerInnen.
Dann ging es weiter durchs Viertel. Die GenossInnen zeigten mir ein weiteres zerbombtes Haus. Aber in diesem, wurde mir berichtet, hat ein Genosse und seine Familie gewohnt. Das Haus wurden nachts von der Polizei angegriffen und gesprengt. Die Staatsgewalt dachte fälschlicherweise, dass ein höherer Parteigenosse dort wohnt. Überall im Viertel, an fast jeder Wand stehen Parolen, die sich mit der DHKP-C solidarisieren oder sich gegen den türkischen Staat richten. Das Kuriose dabei ist, dass die Parolen am Tag gemalt und nachts von schwer bewaffneten Bullen überstrichen werden. Egal wo man in diesem Viertel ist, mensch hat immer eine gute Aussicht auf den Bosporus und den Rest von Istanbul.
Anschließend ging es nach „Gazi Mahallesi“, ein weiterer Stadtteil, der von den Revolutionären dominiert wird. Dort zeigten mir die GenossInnen von etwas weiter weg die ehemalige Hasan-Ferit-Gedik-Entzugsklinik. Auch diese war ein wichtiges Projekt im Kampf gegen die Drogen im Viertel. Die Klinik arbeitete ohne Medikamenten, sondern mit Sport sowie einem geregelten Tagesablauf und hatte eine sehr hohe Erfolgsquote. Heute ist sie von den Bullen besetzt, die die Drogen als Waffe im Klassenkampf nutzen und die Dealer entsprechend schützen.
Danach wurden mir noch ein paar andere Orte in der Stadt gezeigt, wie der Gezi-Park mit dem Taksim-Platz daneben, wo es am 28. Mai 2013 zu Protesten kam, später in den schweren Auseinandersetzungen mit den Bullen mündeten.
Nach den wirklich interessanten Stunden wurde ich abends zu meinem Schlafplatz gebracht. Dort angekommen bin ich nach einem kleinen Abendbrot müde ins Bett gegangen. Um 2:30 Uhr in der Nacht hörte ich plötzlich laute Geräusche und auch der Hund der Familie hat angeschlagen. Als ich meine Augen öffnete, stand auch schon ein Spezialkommando der Bullen mit Schildern und Maschinenpistolen im Zimmer und brüllte mich auf Türkisch an. Alles ging sehr schnell. Sie drehten mich auf den Bauch und fixierten meine Hände auf dem Rücken, dann brachte man mich ins Wohnzimmer zum Rest der Familie. Als das Haus „gesichert“ war, übernahmen Geheimdienstbullen vom MIT die Operation. Nach ungefähr 10 Minuten wurden wir aufgefordert unsere Ausweise rauszugeben. In der Zwischenzeit wurde die ganze Wohnung im Schnelldurchlauf durchsucht. In diesem Moment rutschte die Genossin näher an mich ran und sagte zu mir, ich könne ruhig bleiben und solle mir keine Sorgen machen, das passiere öfter. Sie kenne dies seitdem sie 8 Jahre ist. Als mein Ausweis an die Reihe kam, sagten die Cops nur: „Ah Germany“. Als sie ein Buch über Berkin Elvan fanden, meinten sie auch nur: „Aha“. Nachdem alle Namen notiert waren, sind die Bullen auch schon wieder verschwunden. Danach hat natürlich keiner mehr von uns geschlafen. Ich habe zur Sicherheit eine SMS nach Hause geschrieben.
Morgens gegen 8:00 Uhr sind wir ins Zentrum gegangen. Als wir dort die ersten GenossInnen trafen, war klar, dass es weitere Razzien gegeben hat. Genaueres war nicht bekannt. Als wir gemeinsam das Frühstück gemacht haben, kam eine Genossin herein und sagte mit wütender Stimme, dass der Freund und Genosse Ibrahim von den Bullen ermordet wurde. Insgesamt wurden 4 Häuser gerazzt, bis die Schweine Ibrahim gefunden und ihn mit Kopfschuss hingerichtet haben. Sofort kippte die Stimmung. Die GenossInnen begannen zu weinen, andere riefen seinen Namen und Parolen. Langsam kamen immer mehr Menschen ins Zentrum, weil sie von den Vorfällen der Nacht gehört hatten. Die Bullen erhöhten an diesem Morgen deutlich die Präsenz und zwei Panzerwagen umkreisten dauerhaft das Zentrum. Die meisten Leute standen im Hof und haben eine Schweigeminute für den gefallenen Genossen abgehalten. Vor der provisorischen Bullenstation, die wir vom Kulturzentrum aus sehen konnten, sammelten sich immer mehr Bullenwagen, ein Wasserwerfer fuhr auf. Die Stimmung wurde angespannter. Keiner der BewohnerInnen wusste, wie der Tag enden würde.
Eine Genossin erzählte mir, wer Ibrahim Devrim Top war. Er war ein junger Mann im Alter von 24 Jahren, der für die Revolution und für die Befreiung der Völker gekämpft hat. Vor einem halben Jahr hat Ibrahim einen Drogendealer mit einem Knieschuss verwarnt und ihn aus dem Viertel geschmissen. Der Drogendealer wurde aber von der Polizei geschützt, weil die Bullen ihn brauchen um Drogen ins Viertel zu pumpen. Und jetzt haben die Bullenmörder zugeschlagen. In diesem Moment fing sie an zu weinen. Auch ich bekam Tränen in den Augen. Ich konnte es fühlen, als sie weiter sagte, er ist nicht nur für den Kampf gegen die Drogen gestorben, sondern für UNS und die Revolution, die Gerechtigkeit der Revolution wird ihn rächen.
Langsam musste ich zum Flughafen, um meinen Flug noch zu kriegen. Ein Genosse meinte zu mir, dass es echt schwierig sei, mich mit dem Auto von hier aus zu bringen. Die Bullen würden uns mit ziemlicher Sicherheit raus ziehen. Dann kamen wir auf die Idee, dass ich doch durch die guten Schleichwege zu einem der nächsten Bushaltestellen gehen kann, um von dort aus zur U-Bahn und dann weiter zum Flughafen zu kommen. Ich bin dann auch gleich los. Alles ging gut, nach etwa 2 Stunden kam ich am Flughafen an und nach einer weiteren Stunden konnte ich einchecken. Mir ging ein komisches Gefühl durch den Körper. Ich musste daran denken, dass ich die Menschen die ich kennen lernen durfte, vielleicht nie wieder sehen werde, weil einige von ihnen tot oder im Knast sein werden. Der Gedanke, dass ich nach Hause kann in den „Wohlstandsfrieden“ und hier verrecken unser GenossInnen, weil sie vom Klassenfeind abgeschlachtet werden, ließ mich nicht mehr los … Nun saß ich wieder im Flieger nach Berlin.

In diesem Sinne…

„… Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ (Che)