Wer schreibt die Geschichte!?!

Als proletarische InternationalistInnen sehen wir bei uns die Aufgabe auch darin, die Geschichtsschreibung nicht den Herrschenden zu überlassen und uns dafür einzusetzen, dass unsere Geschichte authentisch vermittelt wird.


Wir berichten in dieser Zeitschrift unter anderem über Kämpfe gegen Unterdrückung, ihre Erfolge und Fortschritte, ihre Willensstärke und ihre Forderungen. Dabei dreht sich diesmal unser kurzer Schwerpunkt um die blutigsten Kapitel der Knastgeschichte – wenn dem Staat die üblichen Methoden zur Spaltung und Niederschlagung von Protesten nicht mehr ausreichen. An einem Ort, wo der Kampf der Widerständigen eine sehr begrenzte Fläche hat. Es geht um Gefängnismassaker. An einem Punkt wo es nicht mehr reicht, die Menschen bloß einzusperren…
Den Anlass für die Themenwahl bildete der Jahrestag der Stammheimer Todesnacht, wozu wir auf den kommenden Seiten ein Flugblatt des Magdeburger Netzwerks abgedruckt haben. Uns ergab sich dadurch zudem die Möglichkeit, mit diesem Text auch unserer persönlichen Betroffenheit Ausdruck zu verleihen und die Gefängnismassaker im Iran und der Türkei zu thematisieren.

Wenn das Gerüst wackelt

Es gab schon immer die Versuche, sich einer fremden Macht zu entziehen. Das heißt einer Macht, welche die Freiheit der Einzelnen raubt und ihnen seine eigenen Vorstellungen von Individualismus mit Gewalt überzustülpen versucht. Es geht dabei immer um die Unterdrückung und die Versklavung der Masse zugunsten von wenigen Herrschenden. Von der Leibeigenschaft im Feudalismus bis zur Lohnarbeit im Kapitalismus. Kolonialismus, Imperialismus und weitere Formen brutaler Herrschaft führen die Menschheit ins Elend. So ist es ganz natürlich, dass es Widerstand gibt. Rebellionen und Aufstände sind die kollektive Verteidigung gegen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse.
Jede Herrschaftsform hat einen gewissen Spielraum, in dem sie Platz für Protest schafft. Je nach Stabilität und Situation kann dieser sehr groß sein oder eine sehr niedrige Hemmschwelle haben. Sobald die Situation nicht mehr zu überschauen ist, das Staatsgerüst wackelt und sich die Kräfteverhältnisse  verschieben, kann es zu einer enormen Reaktion kommen. Dies haben wir mehrfach in der Geschichte erlebt. Massivste Repression in Form von Mord und Massenmord waren die Resultate. Oftmals waren sie  das blutige Ende eines Widerstands, einer Revolte oder einer fabelhaften Idee.

Aus der jüngeren Geschichte

In den USA folgte dem Gefangenen-Aufstand in Attica 1971 ein schreckliches Massaker, bei dem 33 Eingesperrte ermordet und 83 schwer verletzt wurden. Im Oktober 1977 kam es in der BRD zur (bis heute ungeklärten) Tötung von drei Gefangenen im berüchtigten Isolationsgefängnis Stuttgart-Stammheim. 1986 fand in Peru ein Gefängnismassaker statt, bei dem 300 politische Gefangene ermordet wurden. Im Iran wurden im Jahr 1988 tausende Gefangene hingerichtet, von denen nur 5.000 dokumentiert werden konnten. Das Carandiru-Massaker von Oktober 1992, bei dem nach einem Aufstand der Inhaftierten in dem brasilianischen Gefängnis von São Paulo über 100 Menschen getötet wurden. In der Türkei kam es im Jahr 2000 zum Widerstand der Gefangenen gegen die Verlegung in neu gebaute Isolationsgefängnisse (nach Stammheimer Vorbild), 28 Kämpferinnen und Kämpfer wurden dabei ermordet. Diese Aufzählung beinhaltet nur einen kleinen Ausschnitt von dem, was in den Knästen der Welt bisher geschah. Würden wir diese Liste etwas erweitern, so müssten wir auch über die Gefangenen in den chilenischen Stadien nach dem Putsch 1973 berichten oder auf die 30.000 Verschwundenen in Argentinien nach 1976 eingehen. Denn auch hierbei handelte es sich um Menschen, die sich während ihrer Gefangenschaft in Folterzentren wie Villa Grimaldi, El Vesubio oder Esma  befanden…

Die Identität auslöschen

Warum greift ein Staat zu solchen Mitteln? Es reicht nicht, die Menschen einzusperren und sie unwürdig zu behandeln, denn sie sind immer noch eine Gefahr – selbst im Knast. Nun ist eine Knastrevolte das Gegenteil von einem gebrochenem Willen und Resignation. Es ist ein Hoffnungsschimmer in einem dunklen Loch. Um den Widerstand zu brechen, muss die Identität der Widerständigen gebrochen werden. Weil das nicht funktioniert, werden sie einfach ausgelöscht.
Die Widerständigen sind nicht tot, sie leben weiter. Mit jedem Brief, mit jedem Zeitungsbericht, mit jeder Erzählung, in jedem Aufstand. Es ist wichtig, dass wir die Ereignisse dokumentieren. Dass wir die Geschichte erzählen, aus unserer Perspektive. Dass wir Position beziehen für unsere Interessen, für die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit. Die Kämpfe werden eins, wenn wir sie fortführen. Die Herrschenden versuchen permanent, das Geschehene aus den Köpfen zu drängen oder es für die Weltöffentlichkeit zu verklären. Diese Gräueltaten dürfen nicht verklärt, verdreht oder vertuscht werden, sie müssen an die Öffentlichkeit kommen. Das heißt, der bürgerlichen Geschichtsschreibung die eigene entgegenstellen und die Erinnerung wachhalten.

Die Mütter von Khavaran

Am Beispiel von Khavaran, dem Massengrab unzähliger politischer Gefangener im Iran, zeigt sich ganz klar in welcher Weise die Mächtigen dort versuchen, ihre Gräueltaten aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschen zu löschen. Würde es nach der iranischen Regierung gehen, gäbe es diesen Ort nicht. Der „Ort der Verdammten“ wird er von den Mächtigen genannt. Regelmäßig machen sich die Angehörigen auf den Weg nach Khavaran, um zu demonstrieren und Blumen an den Gräbern niederzulegen, der Ermordeten zu Gedenken und Gerechtigkeit einzufordern.
Seit mehr als 30 Jahren wird der Ruf nach Gerechtigkeit nicht leiser. Aller staatlichen Repression zum Trotz verhallen die Parolen nicht. Die Mütter von Khavaran gelten als Symbol für diesen Widerstand. Diese starken Frauen, die dem Drang nach Gerechtigkeit folgen und sich nicht einschüchtern lassen. Die Mütter, die sich schützend vor den jüngeren Protestierenden aufstellen, damit diese nicht angegriffen werden. Jene Mütter, deren Rufe nach Gerechtigkeit, die iranische Regierung so in Schrecken versetzen.
Khavaran ist eine Wunde am Körper der iranischen Gesellschaft, die nicht heilen kann. Bei jedem Besuch, jeder Benennung, jedem Gedanken an Khavaran reißt die Wunde wieder auf und belebt den Kampf für eine gerechtere, freiere Gesellschaft. Verheilen wird sie nicht. Solange es Menschen gibt die den ermordeten Gedenken, ist ihr Kampf nicht verloren.

Lebendig verbrannt

In der Türkei sind gefangene RevolutionärInnen mehrfach zur Zielscheibe staatlicher Henker geworden. So wurden der Buca-Knast von Izmir 1995, der Ümraniye-Knast von Istanbul 1996, der Diyarbakir-Knast 1996, der Ulucanlar-Knast von Ankara 1999 und über 20 Knäste im gesamten Land 2000 zu Orten, wo dutzende Gefangene ermordet wurden. Allein beim Massaker vom 19.-22. Dezember 2000 wurden 28 revolutionäre Gefangene ermordet, die sich im Hungerstreik befanden  – sechs von ihnen wurden lebendig verbrannt. Diese Operation fand unter dem zynischen Namen „Rückkehr zum Leben“ statt.
Der Kampf der revolutionären Gefangenen zielte dabei immer auf die Bewahrung der Würde und der Identität. Dabei kamen die meisten Gefangenen in ihrem Widerstand gegen Folter und gegen die Errichtung von Isolationsgefängnissen des Typs Stammheim ums Leben.

Die Erinnerung wachhalten

Nicht zu vergessen und nicht vergessen zu lassen stellt eine historische Aufgabe dar. Die Geschichtsschreibung jenen zu überlassen, die uns mit allen erdenklichen Unterdrückungsmechanismen am Boden zu halten versuchen, mögen jene tun, die auf ihren sicheren Platz und ihre Privilegien in dieser bürgerlichen Klassengesellschaft nicht verzichten wollen.