Die iranische Arbeiterbewegung und ihre Organisationen | Teil 8: Die Linken und die Wahlen

[Kamal Salehezadeh]

Das Referendum vom 30. März 1979

Mit Khomeini als „Führer“ entsteht faktisch eine konfliktreiche Koalition aus Kleinbürgertum, Großbourgeoisie und Resten des Militärs und des alten Regimes. Damit die Koalition der neuen Machthaber sich als islamische Regierung legitimieren kann, entscheidet sie sich für ein Referendum.
Die kommunistisch orientierten Kräfte im Lande lehnen die Wahloption „Islamische Republik oder Monarchie?“ ab und boykottierten sie. Den Revolutionären und Intellektuellen war es völlig klar, dass die „Islamische Republik“ ein kapitalistisches Regime wird. Das kapitalistische Regime eines Landes aber, welches im Finanz- und Industriesektor, in Militär und Technologie gänzlich von Imperialisten abhängig ist und sich in solchen Fragen nicht positionieren könnte, wird bestenfalls nur formal unabhängig und republikanisch sein, nur durch Geheimdiplomatie und Verhandlungen möglich gemacht. Denn die Bestrebungen von Teilen der Koalition war von Anfang an eine offene Orientierung Richtung Westen. Was eine „Islamische Republik“ ist, und wie die soziale Ordnung und die Ökonomie sein soll, beantworteten die verschiedenen Vertreter der Regierung unterschiedlich und je nach Publikum, das sie zu manipulieren versuchten. Eine „Islamische Republik“, die von Wirtschaftsliberalismus bis hin zur Lebenskultur vor 1400 Jahren, wie in der Entstehungszeit von Islam: „salafistisch“ (übers.: auf Vorfahren berufend) eben, in ihrem reaktionären Spektrum repräsentiert.
Zum anderen beanstandeten die Revolutionäre, dass die Wahloption eingeschränkt sei und das Entscheidungsrecht der Wähler für eine andere, fortschrittliche und soziale Lebensweise ignoriert.
In einigen Teilen des Landes wie in Kurdistan und Turkmansahra konnte das Referendum angesichts der politischen Verhältnissen und wegen der dort eroberten Autonomie nicht durchgeführt werden (siehe GI 402).
Die Tudeh-Partei jedoch rief zur Teilnahme am Referendum auf und optierte für das Mullah-Regime. Die maoistische „Partei der Werktätigen Irans“ (persisch: Hezb-e Ranjbaran-e Iran) votierte ebenfalls für die „islamische Republik“.
Diese beide Parteien waren zwar traditionsreich und im Ausland eher bekannt, aber sie repräsentierten keineswegs die große Masse der Linken, die revolutionär war. Die eben erwähnte „Ranjbaran“ ging so weit bei ihrer Zusammenarbeit mit dem Regime, Unterstützungsbüros als Anlaufstellen für die Wahlkampagnen der Islamisten einzurichten. Diese Politik kritisierte die Partei „Ranjbaran“ selbst einige Jahre nach ihrer großen Niederlage. Die Tudeh-Partei rief ihre Mitglieder zur Zusammenarbeit mit den islamischen Unterdrückungsapparaten, mit dem Geheimdienst und den Militärs. Beide Parteien denunzierten die revolutionären Linken in Turkmansahra und Kurdistan. Die Tudeh-Partei kritisiert zwar heute ihre damalige Politik in manchen Punkten, hat aber bis heute keinen konsequenten Schlussstrich unter ihre Politik der Unterstützung des Khomeinie-Regimes gezogen. Denn nach wie vor nehmen die Befürworter dieser verhängisvollen Politik Einfluss auf die Meinungsbildung in der Partei.
Es herrschte unter den Linken und fortschrittlichen Kräften, fern ab von „Tudeh“ und „Ranjbaran“, der Konsens für eine Volksabstimmung. Dieser Konsens drückte sich in einem Elf-Punkte-Programm der „Nationaldemokratischen Front“, einem Bündnis aus prominenten Anwälten und Menschenrechtsaktivisten, erfahrenen Oppositionellen und ehemaligen politischen Gefangenen, aus. Dieses Programm wurde bereits einen Monat vor dem offiziellem Referendum veröffentlicht. Im ersten Punkt des Programms heißt es: „Es ist sofort ein Referendum einzig zum Zweck der weiteren Forcierung einer legalen Grundlage zur Abschaffung der Monarchie durchzuführen“[1] Hier wird ausdrücklich verlangt: „Ein solches Referendum muss unabhängig von jeder [weiteren] Volksabstimmung sein, die die Art und den Inhalt der Regierung bestimmen soll“.[2] „Die Art der Regierung und ihr Inhalt dürfen erst nach einem angemessenen Zeitabstand bestimmt werden.“[3] Diese Zeit sollte für Austausch und Diskussionen der Bevölkerung genutzt werden. Daher müssen „alle Institutionen und Elemente, die auf irgendeine Weise die Meinungsfreiheit behindern oder Furcht und Druck mit undemokratischen Mitteln einflößen“[4] als konterrevolutionär beseitigt werden. Darüber hinaus verlangt das Programm, „dringend einen Rat, bestehend aus Arbeitern, Regierungsangestellten, Gilden und anderen fortschrittlichen Gruppen, zu wählen, der Revolutionärer Koordinierungsrat genannt werden soll“[5] und zwar im Sinne einer „provisorischen Regierung“. Eine solche Regierung muss „eine Volksabstimmung und die Organisierung einer verfassungsgebenden Versammlung“[6] beaufsichtigen. Der fünfte Punkt lautet: „Es muß das Recht der Arbeiter und Angestellten, an der Verwaltung und Kontrolle der Fabriken und Büros mitzuwirken, durch die Wahl von Arbeitern und Angestellten in den Räten anerkannt werden“[7]. All diese Forderungen wurden von den Islamisten ignoriert. Zwei Monate später, nämlich am 1. Mai 1979, mobilisierten die linken Kräfte allein in Tehran mehr als eine Million Demonstranten auf der Straße mit einem abschließenden programmatischen Aufruf.
Nach dem Referendum vom 30. März 1979 proklamierte der religiöse Führer Ajatollah Ruhollah Khomeini am 1. April die Islamische Republik Iran. Hatte er am Tag seiner Einreise im Iran am 1.2.1979 den Senat noch das künftige Parlament genannt, sprach er jetzt vom konstitutionellen Parlament. Pragmatisch und machtgierig hatte er inzwischen begriffen, dass der Senat, ein Relikt aus Schahs Zeiten, beim Volk verhasst war. Der Schah hatte  die Hälfte der Abgeordneten des Senats selbst eingesetzt, und die andere Hälfte entstammte ebenfalls der korrupten Elite. Der Täuschungstrick bei der Verwendung des Begriffs „konstituierende Versammlung“ anstelle von „Senat“ war eine kurze Episode. Bald darauf sprach Khomeini von einem Parlament, dessen „gewählte“ Mitglieder aus Experten bestehen sollte. Mit Experten waren islamische Gelehrte gemeint. Khomeini bestand selbst auf der Reduzierung dieses Parlaments auf ein Sechstel mit nur 60 Abgeordneten.[8]

Die Wahlen zur verfassungsgebenden Expertenversammlung (Aug. 1979)

Nach dem Sturz des Schah in Folge des revolutionären Aufstands wurden nach etwa 27 Jahren die Wahlen ein Thema für die Linke.
Wie bereits erläutert (GI 395) sind unter dem Begriff „Linke“ alle Parteien gemeint, die sich als marxistisch-leninistisch bezeichnen. Denn eine anders geartete Linke, wie z.B. eine sozialdemokratische Partei, existierte nur für weniger als drei Jahre Anfangs der 50er Jahre. Davor und danach gab es nur einzelne Personen oder bestenfalls kleine Kreise, die sich so bezeichneten. Diese Anmerkung ist notwendig, um klar zu machen, mit welchem Diskurs und historischen Erfahrungen sich die Linke an das Thema Wahlen heran wagte. Den Linken war bewusst, dass nach den Klassikern des Marxismus-Leninismus die Zeiten der bürgerlichen Demokratie längst vorbei und der Parlamentarismus eine tote Leiche sei: „Die bürgerliche Demokratie hat sich überlebt“[9] Dennoch kann aus taktischen Gründen in manchen Ländern angesichts der Revolutionsetappe und nur ihrer taktischen Vorbereitung wegen die Teilnahme an den Wahlen eine wichtige Rolle spielen: „Wie kann man denn davon reden, daß der „Parlamentarismus politisch erledigt“ sei, wenn „Millionen“ und „Legionen“ Proletarier nicht nur für den Parlamentarismus schlechthin eintreten, sondern sogar direkt „gegenrevolutionär“ sind!? Es ist klar, daß der Parlamentarismus in Deutschland noch nicht erledigt ist. Es ist klar, daß die „Linken“ in Deutschland ihren eigenen Wunsch, ihre eigene ideologisch-politische Stellung für die objektive Wirklichkeit halten.“[10] Um genau die zuletzt zitierte Haltung zu missbrauchen, musste der sich langsam aber stetig formierende Flügel im Zentralkomitee der jungen aber einflussreichsten und größten ML-Organisation nach dem CIA-Putsch die objektive Grundlage im Iran zu dieser Zeit im Dunklen lassen, um ihre Beteiligung an diesen Wahlen zu rechtfertigen. Die objektive Grundlage war nämlich, dass die große Masse der Werktätigen eine fortschrittliche, nicht-kapitalistische Gesellschaft wollten. Und viele Arme und Teile der Werktätigen waren zumindest daran interessiert, die Taktiken und die Haltung der Kommunisten scharf zu beobachten, um sich für oder gegen das islamische Regime zu positionieren. D.h. die Legitimität der islamischen Regierung war keineswegs besiegelt. Dass war genau der Grund, weshalb Khomeini sich sogar gegen die Forderung der bürgerlichen Kräfte nach einer „konstituierenden Versammlung“ aussprach, um vor allem den Kommunisten keine Chance zu geben, die Tribüne des Parlaments für Aufklärung und Mobilisierung zu nutzen. Diese Tatsachen ignorierten die sich formierenden Revisionisten in der Organisation der Volksfedajien und nahmen als Organisation an diesen Wahlen teil. Mit dem Beitrag „Warum wir an den Wahlen zum „Experten Parlament“ teilnahmen?“ (persisch: „Chera dar entekhabat-e khobregan sherkat kardim?“) legitimierten sie in den Augen der Millionen suchenden und abwartenden Werktätigen Khomeinis reaktionäres Regime. Wohlgemerkt, sie – auch die Revisionisten – erwarteten nicht, dass sie den Weg in ein solches Parlament finden würden, um seine Tribüne für Aufklärung und Kampf zu nutzen. Umso erstaunlicher ist, dass diese Volksfedajien die Verdrehung der Tatsachen vorantrieben. Und schließlich scharte das junge und politisch kaum erfahrene Zentralkomitee innerhalb von einem Jahr die Mehrheit hinter sich, um die Spaltung und damit die baldige Bedeutungslosigkeit der Organisation herbeizuführen.
Ihre wiederholte Taktik: die objektive Kampfbereitschaft der Proletarier und ihre Verbündeten desolat darstellen und immer herunterspielen. In ihren organisationsinternen Pamphleten hieß es immer wieder (sinngemäß) „die Kurden sind nach drei Jahren Krieg ermüdet und demoralisiert“ […] „Wir müssen unsere Kamps dort aufgeben“. Aber den Kurden wurde der Krieg seitens der islamischen Regierung aufgezwungen. 35 Jahre nach der Bankrotterklärung der „Mehrheit der Volksfedajien“ leisten die Kurden im Iran noch immer Widerstand.
Am 2. Dezember 1979 verabschiedet die verfassungsgebende Expertenversammlung die islamische Verfassung. Sie enthält umfassende Vollmachten für Khomeini (Velajat-e Faghieh: Herrschaft der Religionsführer) und seinen Nachfolger. Demnach geht die Macht nicht vom Volke aus, sondern vom Religionsführer, „Emam“ oder „Rahbar“ genannt. Alle kommunistisch orientierten Organisationen lehnten diese Verfassung ab. Die Tudeh-Partei und die Partei der Werktätigen Irans stimmten ihr zu.

Die Parlamentswahlen der ersten Legislaturperiode

Bei den folgenden Parlamentswahlen zum „Majless“ nahmen fast ausnahmslos alle linken Kräfte teil. Auch hier war nicht zu erwarten, dass die Linken tatsächlich im Parlament präsent sein durften. Aber ihr großer Erfolg bestand darin, zu zeigen, welche beachtliche Zustimmung sie in der Gesellschaft haben. Allein in Teheran stimmten mehrere Hunderttausend für die Kandidaten der Volksfedajien und für ihr Minimalprogramm. Ihre Stimmen wurden annulliert. Die Volksfedajien nahmen auch die Kandidaten der ehemals „marxistischen Mojahedien“ ( „Peykar“ siehe GI. 397), ja sogar die der Volksmojahedin auf ihre Liste. In der Industriestadt Abadan in Südwest-Iran hat der Kandidat der Volksfedajien die Wahlen gewonnen. Alle Wahlzettel von Abadan wurden kurzerhand für ungültig erklärt. Es gab kaum eine Wohnung, die – z.B. auf dem Balkon – nicht die Wahlplakate der Volksfedajien zur Schau stellte. Auch im Südosten gewann der Kandidat der Volksfedajien die Wahlen. Auch die Ergebnisse dort wurden für ungültig erklärt. Die islamischen Wahlen verloren jegliche Legitimität.
Die Wahlen der nächsten Legislaturperiode wurden wegen der Massenhinrichtungen an progressiven Kräfte von den Linken boykottiert und fanden kaum Beachtung.


[1] Englische Übersetzung in der  Tageszeitung „Keyhan – International“ vom 6.3.1979, S. 1
[2] Ebenda
[3] Ebenda
[4] Ebenda
[5] Ebenda
[6] Ebenda
[7] Ebenda
[8] Vgl. Abbass Amirentezam, „nagofteh-haie az enghelab 1375“ (Farsi), Paris, 2008, S. 384 ff. Er war als Kabinettsmitglied direkt in dieser Angelegenheit beteiligt.
[9] W. J. Lenin, Die dritte Internationale und ihr Platz in der Geschichte, Lenin-Werke, Berlin, 1961, Bd. 29, S. 300
[10] W. J. Lenin, Der „Linksradikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Lenin-Werke, Berlin, 1961, Bd. 31, S. 43