Zur Dialektik des Kampfes (auch) in der Folterkammer

Zum Gedichtband „Mein Alptraum“ von Farkhondhe Taghadossi

Farkhonde Taghadossi
Mein Alptraum
Zeichnungen:
Ahmad Barakizadeh,Vahid Nasseri

ISBN 978-3-930726-26-4
117 Seiten
Preis: 10,00 Euro
AK Regionalgeschichte

Die Ereignisse und Entwicklungen der letzten 37 Jahren im Iran zeigen, je mehr das Regime seinen ideologischen Druck in Form der Islamisierung des Alltags durchzusetzen versuchte, desto mehr wurde dieser insbesondere von der urbanen Bevölkerung abgelehnt. Es ist offensichtlich, dass die große Mehrheit der in den Städten lebenden Menschen inzwischen kaum religiöse Tendenzen hat. Gewissermaßen als Antithese zur Islamisierung aller Lebensbereiche „von Oben“, als die Verarbeitung dieser religiösen Mystifizierung des Lebens, bildeten sich anti-klerikale Meinungen insbesondere in der Stadtbevölkerung heraus. Darunter fällt auch ein wichtiger Anteil der Menschen, die sich als Atheisten und  anti-religiös bezeichnen. Die aus diesem anti-religiösen Milieu stammenden Blogger landen in den Kerkern des islamischen Regimes. Angesichts der katastrophalen Verhältnisse im Lande, für die die kapitalistische Ordnung mit ihren schlimmsten Auswucherungen, wie gewaltigem Reichtum gepaart mit atemberaubender Korruption der Elite, gegenüber großer Armut der Mehrheit der Gesellschaft1 verantwortlich ist, ist es kein Wunder, dass die eindringliche zwanghafte Islamisierung aller Lebensbereiche für diese Misere kritisiert wird. Das ist eine Massenerscheinung im Alltagsleben der Menschen. Trotz des Widerstandes der Mehrheit der Stadtbewohner gegen die Ideologie und Kultur der herrschenden Klasse, muss man gleichzeitig feststellen, dass die metaphysisch religiöse Denkweise in den letzten 37 Jahren sich eigentlich mehr verbreitet und zugenommen hat. Für beide parallelen Erscheinungen gibt es eine dialektische Erklärung. Bei der ersten handelt es sich um Ablehnung der herrschenden Macht und der Sehnsucht und dem Wunsch nach Emanzipation gegenüber der rückwärtsgewandten islamischen Kultur der „neuen“ Machthaber. Dies ist die Antithese. In der gegenläufigen Entwicklung sind wir Zeugen des Einflusses der Phänomene auf einander. Die religiöse Propaganda in den Schulen und Schulbüchern, durch die Medien, am Arbeitsplatz, … findet doch ihren Weg auch in die Köpfe der Individuen, trotz ihrer Ablehnung dieser Propaganda.

Die Zerschlagung progressiver Lebensweisen, nach dem revolutionären Aufstand gegen das von Imperialisten geleitete Schah-Regime, ging einher mit der Verfolgung aller fortschrittlichen Organisationen und Parteien. Besonders Aktivisten, die sich konsequent für die revolutionäre Alternative gegenüber dem kapitalistisch-islamischem Regime einsetzten, widerfuhren schwerste Folter und Grausamkeiten der staatlichen Nachfolge-Organisation der SAVAK, die nun als SAVAMA2 „firmiert“. Aber der Widerstand der unbeugsamen Gefangenen ist ebenfalls gewaltig und unbeschreiblich heldenhaft. Der Gedichtband „Mein Alptraum“ von Farkhondhe Taghadossi bezieht sich auf diese Zeit. Ihre Haftzeit. Die Zeit der Niederlage der Linken, die eine andere, eine neue Gesellschaftsordnung mit dem Aufstand und mit den Wünschen und Forderungen der iranischen Völker verband. Das Bild, das sich am Ende dieser Phase zeigt, besteht aus dem Blut der heldenmütigen Revolutionäre an den Wänden der Folterkammern der Ajatollahs und auf den Erschießungsplätzen ihrer Gefängnisse einerseits (physische Eliminierung), aber auch in der Aufgabe der revolutionären Ziele und Zukunftsideale andererseits. Die Zusammenkunft der Antagonismen. „Ein schmutziges Paradies“ (52)3 eben. Das klare Ziel vor Augen ist verschwommen. Keine neugierige Suche, (ver)alte(te) Sehnsüchte (?).

„Das Dorf ist dort
ganz nah
gegenüber
[…] es riecht nach frischem Bauernbrot
[…] ich liebe das Dorf
[…]“ (63)

Phantasien und Träume, als eine Art intellektueller „Ablenkung“, waren und sind in allen Zeiten eine moralische Unterstützung der Gefangenen im Kampf gegen Einsperrungsgewalt. Für die politische Gefangenen umso mehr.

„ […] um zwölf Uhr
bin ich nicht allein
in meiner Zelle
um zwölf Uhr
sind sie da
die Tauben“ (76)
„Durch die Gitterstäbe
des Fensters
meiner Zelle
zwinkern mir
die kleinen Sterne zu“ (86)

Diese Phantasien aber bekommen im Zuge eines revolutionären Aufschwungs einen anderen Inhalt und eine andere Form. 1971 wurde Ashraf Dehghani, ein Mitglied der Guerillaorganisation der Volksfedajien, verhaftet und brutalster SAVAK-Folter unterworfen. Die Nachricht über ihre Flucht aus dem Schah-Gefängnis und ihre Erlebnisse verbreiteten sich weltweit4. Die einzigen Informationen, die sie unter massiver Folter der ersten Stunden preisgibt, sind ihr Name und ihre Organisations-Zughörigkeit. „Ich konzentrierte mich auf meine Willensstärke und versuchte, meine Schmerzen zu ignorieren, um mich in einen Zustand zu versetzen, in dem ich wie ein Zuschauer meine Folterung erleben wollte. Es gelang mir einigermaßen, doch die Peitsche war eine reelle Tatsache, über die man sich auf diese Weise nicht so leicht hinwegsetzen konnte. Ich brauchte etwas Reelles, dem ich meine Gedanken zuwenden wollte. Jedes Mal, wenn der Schmerz sich vergrößerte, zählte ich die Namen von Eypale, Reihan, Robab, Kasein, … auf. Das waren Arbeiter in dem Dorf, in dem ich als Lehrerin gearbeitet hatte. Es war mir, als sehen sie mich mit ihren bekümmerten Augen an, als könnte ich sie berühren, sie waren besorgt und warteten ungeduldig auf ein Zeichen meiner Liebe zu Ihnen. […] Von ihren Augen konnte ich sehen, wie viel sie von mir erwarteten. Ich konnte in ihren Augen die Angst und den Schmerz lesen.“5 Auf der Folterbank rezitiert sie:

„Mit jedem Quietschen
Enthüllt sich die Tatsache,
dass die veraltete Maschinerie ihrem Ende
entgegengeht.
Wir müssen kämpfen wie die Bolschewiken;
Unsere Herzen brennen vor Leidenschaft,
was bedeutet es da noch, vom Feind
erschossen zu werden.“ [6]

So beschreibt Aschraf Dehghani ihre Verhaftung, als sie plötzlich von mehreren Beamten der politischen Polizei am Straßenrand überfallen wird: „Sie packten mich fester. […] Ich hob den Kopf und sah einen Bus. […] Ich dachte mir: das sind die letzten Arbeiter, die ich sehe. […] ich wandte ihnen meinen Kopf zu und versuchte, ihnen zu sagen, dass ich sie immer liebe und mich nie von ihnen abwenden würde.“7
Das Gedichtheft „Mein Alptraum“ beginnt mit einer Autobiographie als „Vorbemerkung“, so wie Taghadossi sich selbst sehen möchte. Man erfährt jedoch nicht, weshalb sie verhaftet wurde. Wegen fehlen des Hijabs? (59 u..a.) War sie eine „Linke“, ja sogar gegen das„Unrechtsregime“ und war sie in einem Gefängnis, wo die „Antikapitalisten“ eingesperrt waren? War sie organisiert? Ein Hinweis darüber findet sich in ihrer erwähnten Biographie: „Genossinnen“. Aber auch in einer Begegnung mit einer Gefangenen:

„ […] ich umarme sie fest
[…] ich frage leise
wann wurdest du verhaftet?
am Achtzehnten antwortet sie
Freude strömt in mir hoch
ich atme tief und ruhig
ich am neunzehnten sage ich“ (53)

Die Frage! Die Autorin verfolgt mit ihrer Frage ein Ziel. „wann wurdest du verhaftet?“. Antwort: „am Achtzehnten“. Erst nun hat sie die Gewissheit, dass sie nach ihrer Genossin verhaftet worden ist, teilt ihr aber ihre bisherige Sorge nicht mit, kehrt in sich ein. Überlegung. Freude. Adäquate Haltung: „ich atme tief und ruhig“, dann sagt sie: „ich am neunzehnten“. Hatte die Autorin bis jetzt Zweifel, dass sie bei der Verhaftung ihrer Freundin keine Schuld hatte?