„Uns können eure Mauern nichts anhaben“

Die Zeilen des Titels entstammen einem Lied des Musikkollektivs Grup Yorum. Am 23. November 2016 wurden sieben ihrer Mitglieder nach einer immer massiver werdenden Welle an Provokationen und Angriffen schließlich inhaftiert. Bei den Verhafteten handelt es sich um İnan Altın, Ali Aracı, Selma Altın, Helin Bölek, Dilan Poyraz, Sultan Gökçek und Fırat Kıl. Unsere Solidarität ist gefragt!

In ihrer 32-jährigen Geschichte hat das Musikkollektiv Grup Yorum viele Repressalien in Form von Verboten, Zensur, Haftstrafen, Folter und Exil über sich ergehen lassen müssen. Einigen unseren LeserInnen dürfte die Gruppe bekannt sein, einigen anderen hingegen vielleicht weniger. Anlässlich der Inhaftierung von sieben Gruppenmitgliedern erschien es uns wichtig, mit diesem Beitrag etwas näher auf das Kollektiv einzugehen und damit zur Solidarität mit den gefangenen Grup Yorum-Mitgliedern aufzurufen.
Einleitend möchten wir mit einer Schilderung eines für Grup Yorum typischen Konzertes beginnen, um einerseits die angespannten Verhältnisse in der Türkei und andererseits die Haltung des MusikerInnen-Kollektivs zu verdeutlichen. In der 159. Ausgabe der Kulturzeitschrift Tavır1 wird von einem Konzert am 22. Juli 2016, einen Tag nach Verhängung des Ausnahmezustandes OHAL, im İkitelli-Bezirk von Istanbul berichtet:
„Nachdem Grup Yorum im Kemal Delen-Park ihr drittes Lied begonnen hatte, griff die Polizei die Masse mit Tränengas an. Daraufhin gingen die AnwohnerInnen des Bezirks auf die Straßen und begannen, sich gegen die Polizei zur Wehr zu setzen, um ihr Viertel zu schützen. Nachdem diese die Polizei zum Rückzug gezwungen hatte, wurde das Konzert in einer anderen Straße fortgesetzt. Dort sprach Grup Yorum zu den KonzertbesucherInnen: ‚Es ist die Zeit, auf die Straßen zu gehen und Revolutionslieder zu singen. Es sind unsere Straßen und unsere Bezirke. Wir können nicht schweigen, während die AKP ihre Leute auf die Straßen schickt, um neue Massaker zu begehen. Wir rufen alle dazu auf, auf die Straßen zu gehen und unsere Bezirke zu schützen.‘“

Kunst, Kultur und Presse unter Bedingungen des Ausnahmezustandes
Einige haben die Entwicklungen in der Türkei unterschätzt, andere wiederum haben sie kommen sehen. Denn als die AKP-Regierung unter Erdoğan am 21. Juli 2016 den landesweiten Ausnahmezustand OHAL ausrief, meldeten sich verschiedenste Stimmen zu Wort. Wer damals jedoch dachte, dass es sich dabei ausschließlich um eine Maßnahme gegen den für den Putsch verantwortlich gemachten FETÖ/PDY (Fetullahistische Terrororganisation/Parallele Staatsstruktur) handeln würde, hatte sich gewaltig geirrt.
Die Monate nach dem Putsch haben klar gezeigt, dass neben der systeminternen Säuberung mitunter etwas ganz anderes beabsichtigt wurde. Und zwar eine Offensive gegen die Bevölkerung, gegen die komplette Opposition sowie gegen die progressiven Kräfte innerhalb als auch außerhalb des Landes.
Insbesondere letztere hatten es kommen sehen. Mit diversen Erklärungen hatten sie unmittelbar nach Verlautbarung des Ausnahmezustandes versucht, darauf aufmerksam zu machen, dass ein Ausnahmezustand und die damit einhergehende Außerkraftsetzung grundlegender Rechte und Freiheiten, in Anbetracht der reaktionären Linie der AKP, nichts Gutes bedeuten würde. Das düstere Bild, das sie dabei ausmalten, hat sich nicht nur bestätigt, sondern wurde durch die realen Ereignisse und Entwicklungen übertroffen.
Nun scheint es wahrscheinlich, dass der ursprünglich für drei Monate angesetzte und im Oktober 2016 um weitere drei Monate verlängerte Ausnahmezustand OHAL noch einige Zeit bestehen bleiben dürfte.
Die Verhaftung der Grup Yorum-Mitglieder am 23. November 2016 fand im Zuge der zunehmenden Angriffe gegen inner- und außerparlamentarische Oppositionelle statt. Aber es sind speziell auch die Presse sowie der Kunst- und Kultursektor, die massiven Repressalien ausgesetzt sind.
Angaben zufolge mussten zwei Zeitungen ihren Vertrieb während der ersten OHAL-Periode vom Juli bis November 2016 einstellen, 184 Presseeinrichtungen seien geschlossen worden, 184 PressearbeiterInnen seien festgenommen und 56 davon seien verhaftet worden. Damit lag zu dem besagten Zeitpunkt die Anzahl der inhaftierten JournalistInnen bei über 110!
Gegen den in Amed arbeitenden, kurdischen Verlag Aram Yayınları2 wurde ein Beschluss gefällt, wonach 53 ihrer publizierten Bücher eingesammelt und verboten wurden. Mehrere Theatertourneen und -aufführungen sind landesweit aufgrund des Ausnahmezustands gestrichen worden. Der Theaterkünstler Genco Erkal3 musste in Istanbul deswegen die Aufführung des Stücks „Am Tisch der Sonne – Nazım und Brecht“ absagen. Mehrere gewerkschaftlich organisierte oppositionelle­­­ TheaterdarstellerInnen des Istanbuler Stadttheaters IBB wurden vom Dienst suspendiert. Grup Yorum selbst ist seitdem mit Hinderungs- und Verbotsversuchen ihrer Konzerte und massivsten Angriffen seitens der Polizei konfrontiert.
Und dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Repressionslandschaft der Türkei gegen Presse, Kunst und Kultur.

Eine Geschichte des Widerstands und der Repression
Grup Yorum hat dennoch mehr mit Repression, Knast und Gefangenen zu tun, als die meisten es womöglich vermuten würden. Denn damit ist nicht nur gemeint, dass Mitglieder des Kollektivs immer wieder eingesperrt werden, sondern dass die Themen Gefangenenschaft, Gefangenenwiderstand und der Kampf der Gefangenenangehörigen sehr oft wichtige inhaltliche Bestandteile ihrer Musik darstellen. Viele ihrer Texte stammen aus den Federn von revolutionären Gefangenen, die Grup Yorum zu Liedern komponierte. Einige Lieder wurden sogar von Gruppenmitgliedern komponiert, während sie sich selbst in Haft befanden. Allein drei ihrer Alben befassen sich ausschließlich mit Gefangenenwiderständen und -massakern. So thematisiert das Album “Eylül” das Gefängnismassaker von Ulucanlar im Jahre 1999. Das umfangreiche Album “Boran Fırtınası” ist im Grunde genommen ein einziges Epos, in dem der Todesfastenwiderstand von 1996 behandelt wird und bei dem 12 Menschen während des Widerstands starben. Das Album “Feda” ist eine Widmung an den langen Todesfastenwiderstand von 2000-2007, bei dem 122 Menschen ihr Leben verloren.
Aber schließlich handelt es sich bei Grup Yorum um ein Musikkollektiv, das einer Befreiungsbewegung entspringt und sich ständig inmitten der antifaschistischen und antiimperialistischen Auseinandersetzung befindet. Und ihr politisches Engagement schlägt sich auf ihr Schaffen nieder. In der Türkei sind sie deswegen regelmäßig bei ArbeiterInnenkämpfen, auf Demonstrationen gegen den Abriss von Gecekondu-Vierteln4, bei Solidaritätsaktivitäten mit den revolutionären Gefangenen oder bei Aktionen gegen imperialistische Kriege und Besatzungen anzutreffen. In diesem Sinne entsendete die Gruppe eines ihrer Mitglieder 2003 in den von den USA angegriffenen Irak, um dort als lebendes Schutzschild5 die Bevölkerung vor militärischen Angriffen zu schützen.
Die Geschichte des Kollektivs kann aber dennoch nicht losgelöst von staatlicher Repression inner- und außerhalb der Türkei betrachtet werden. Ein aktuelles Beispiel wäre das Festival „Ein Herz und eine Stimme gegen Rassismus“, das im Sommer 2016 im deutschen Gladbeck trotz massivster Unterbindungsversuche seitens des deutschen Staates letztendlich als Kundgebung umgesetzt werden konnte. Es ist bezeichnend, dass Grup Yorum bereits 2003 in ihrem Buch „Bir Kar Makinesi II“ festhielt, dass sie „insbesondere in der BRD sehr häufig mit Verboten und Hindernissen konfrontiert“6 seien. Der Vorfall von Gladbeck hat gezeigt, dass sich daran nichts geändert hat.
In der Türkei hingegen verfügen die repressiven Maßnahmen über ein anderes Niveau. Es gibt wahrscheinlich kein Gruppenmitglied, das nicht schon mal im Knast oder in Gewahrsam gewesen wäre. Einige von ihnen haben langjährige Haftstrafen hinter sich oder leben heute im Exil.
Zu den Maßnahmen gegen die Gruppe zählen auch immer wiederkehrende Konzertverbote. Das längste Verbot betraf die Metropole Istanbul, wonach die Gruppe in den 90ern zehn Jahre lang kein einziges Konzert in der Stadt spielen durfte.

Solidarität mit Grup Yorum!
Vor der Verhaftung der Grup Yorum-Mitglieder war das Istanbuler Kulturzentrum İdil7, in dem das Kollektiv organisiert ist, vermehrt zur Zielscheibe staatlicher Angriffe geworden. Die Polizei hatte binnen weniger Wochen mehrere Angriffe auf das Kulturzentrum vorgenommen und die Räume verwüstet. Das letzte Grup Yorum-Musikvideo, welches wenige Tage vor der Inhaftierung der Gruppenmitglieder veröffentlicht worden war, zeigte die zerschlagenen Instrumente.
Es ist offensichtlich, dass das Kollektiv zum Schweigen gebracht werden soll. Schließlich hatten sie es insbesondere in den letzten Jahren geschafft, Konzerte vor hunderttausenden BesucherInnen zu geben und dadurch bewegungsübergreifend die Massen zusammenzubringen und zu agitieren. Und tatsächlich repräsentiert Grup Yorum nicht nur eine Bewegung, sondern hat es im Laufe ihres Wirkens geschafft, eine Stimme der revolutionären Bewegung und der progressiven Teile der Massen zu werden.

 


[1] Bedeutet soviel wie „Haltung“ und ist eine regelmäßig in der Türkei erscheinende, politische Kunst- und Kulturzeitschrift.
[2] Ein 1997 in Istanbul gegründeter und 2008 nach Amed (Diyarbakır) umgezogener Verlag, welcher immer wieder massivster Repression ausgesetzt ist und neben kurdischer und türkischer Literatur mitunter Bücher von Noam Chomsky oder Edward Said verlegt.
[3] Ein mehrfach ausgezeichneter Theaterkünstler, Begründer des Istanbuler Theatergemeinschaft Dostlar Tiyatrosu und bekannt für seine Rollen wie in Brechts „Galileo“, Gogols „Tagesbuch eines Verrückten“ oder  Nâzım Hikmets „Kerem Gibi“.
[4] Bedeutet frei übersetzt „über Nacht erbaut“ und ist in der Regel eine Bezeichnung für arme Siedlungen an den Stadträndern.
[5] Grup Yorum-Mitglied Cihan Keşkek begab sich 2003 mit einer Delegation in den Irak. Diese Aktion wurde später als Tagebuch mit dem Titel „68 Tage in Bagdad“ veröffentlicht.
[6] Aus dem von Grup Yorum 2003 veröffentlichten Buch „Bir Kar Makinesi“, S. 29.