Ehemalige politische Gefangene und Mapuche im Hungerstreik

Chile: Während ehemalige politische Gefangene von der Bachelet-Regierung ein neues Gesetz zur Verbesserung von Entschädigungszahlungen fordern und den mangelnden politischen Willen kritisieren, die Verbrechen lückenlos aufzuklären, sind im Süden des Landes Mapuche-Aktivisten polizeilicher Repression und politischer Verfolgung ausgesetzt.

In einer Sache sind sich die Regierungsparteien und Opposition ausnahmsweise einig. In Chile gibt es keine politischen Gefangenen. Als 2013 im Norden Chiles drei bolivianische Soldaten von der chilenischen Polizei wegen illegaler und bewaffneter Grenzübertretung inhaftiert wurden, antwortete der damalige Außenminister Alfredo Moreno auf die Androhung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales, den Vorfall vor dem Internationalen Gerichtshof zu bringen, mit der Aussage, in Chile gäbe es keine politischen Gefangenen.1
Dieselbe Meinung vertrat die Sozialdemokratin Michelle Bachelet in ihrer ersten Regierungszeit, als sie bei einem Staatsbesuch in der Schweiz 2007 auf die Frage der Situation von inhaftierten Mapuche wortwörtlich meinte: „In Europa gibt es einen falschen Eindruck der Situation der politischen Gefangenen in Chile. Es sind keine politischen Gefangenen, es sind Personen, die Verbrechen begangen haben“.2 Die Verneinung dieses Faktums scheint Staatspolitik des herrschenden Duopols, bestehend aus dem sozialdemokratischen Parteienbündnis Nueva Mayoría  und der rechtskonservativen Alianza por Chile, zu sein. Dabei müsste die Präsidentin, die nun ihre zweite Amtszeit absolviert und in der berüchtigten Foltervilla Villa Grimaldi selber zum Opfer der Militärjunta wurde, es besser wissen. In Chile sitzen schätzungsweise 56 politische Gefangene hinter Gittern. Ihre Situation und Haftbedingungen sind oft prekär und von Isolation geprägt.

Ein Film bringt die dunkle Vergangenheit zurück
Am 6. Februar 2016 feierte in Berlin der Streifen „Colonia Dignidad  – es gibt kein Zurück“ Premiere. Im Film wird die Verschleppung und die systematische Folterung und Ermordung von politischen Gefangenen in einer deutschen Siedlung im Süden Chiles zu Beginn der Militärdiktatur thematisiert. Das Werk erinnert nicht nur an das dunkelste Kapitel der jüngeren Geschichte Chiles, sondern thematisiert auch die unrühmliche deutsche Außenpolitik in Anbetracht der wohlwollenden Haltung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem chilenischen Militärregime und über die bereits vorhandenen Kenntnisse von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Am 11. Juli diesen Jahres hat der Verein La Memoria y los Derechos Humanos Colonia Dignidad Anzeige gegen die noch unbekannten Täter von Verschleppung und Ermordung von politischen Gefangenen erstattet. Aus Dokumenten, die auch von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt wurden, geht hervor, dass es nachweislich Operationen des chilenischen Militärs in der Colonia Dignidad gab, die die Ermordung und Beseitigung der Opfer zum Ziel hatte. Diese Verbrechen geschahen im Wissen und der Mittäterschaft des  deutschen Siedler- und Sektenchefs Paul Schäfer. Schätzungsweise 100 Opfer sind in der Siedlung verschwunden. Der Verein kritisiert zudem die mangelnde Bereitschaft des Staates, bei der Ermittlung der noch lebenden Täter zu helfen.

Ehemalige politische Gefangene fordern Aufklärung und Entschädigungszahlungen
Ebenso kritisch sehen die Sprecher des Dachverbandes ehemaliger politischer Gefangener (UNExPP) die Rolle des Staates und haben im Juni einen Hungerstreik begonnen: „Unsere Peiniger haben bessere Renten als wir. Sie sind in Gefängnissen, die Fünf-Sterne-Hotels gleichen oder erhalten ihre vollen Bezüge, die dreimal so hoch sind wie unsere, obwohl wir es waren die in den Konzentrationslagern und Folterzentren gelitten und Todesängste ausstehen mussten. Uns hat man weder psychologische noch materielle Unterstützung gegeben – die Regierung steht bei uns damit in der Schuld“, betonte Luis Wilfredo Jaque. 3
2015 hatte die UNExPP mit der Regierung vereinbart die Entschädigungszahlungen, die seit 2004 an politische Gefangene gezahlt werden, durch Extrazahlungen zu erhöhen. Dieser Abmachung ist der Staat bisher nicht nachgekommen. Weder der Innenminister Jorge Burgos noch die Präsidentin Michelle Bachelet haben Bereitschaft gezeigt, die Sprecher zu empfangen: „Wir wenden uns nun an die UN-Menschenrechtskommission, denn es gibt ein Abkommen mit dem chilenischen Staat, der Entschädigungszahlungen für Opfer von Folter und Gefangenschaft vorsieht. Die Summen, die bisher gezahlt wurden reichen nicht einmal aus um medizinische Kosten zu decken und es sind bereits 10.000 ehemalige politische Gefangene verstorben“, unterstreicht Patricio Rivera.4
Sie fordern zudem die Öffnung der unter Verschluss gehaltenen Archiven der Valech-Kommission, um Anhaltspunkte über die Täter zu bekommen, die die Ermittlungen gegen die Folterer voranbringen könnten. Diese Archive sollen noch ca. 50 Jahre unter Verschluss gehalten werden. Bisher fehlte der politische Wille, um diese Verbrechen restlos aufzuklären. Einige Abgeordnete haben jedoch bereits signalisiert, diese Forderung im Parlament einzubringen und zu unterstützen. Sollte sich im Unterhaus eine Mehrheit für den Gesetzesentwurf finden, muss der Senat das Gesetz verabschieden.
Zu politischen Gefangenen müssen im weitesten Sinne auch die Frauen und Männer hinzugezählt werden, die während der Militärdiktatur im Untergrund waren und die nach 1990 Delikte wie bewaffneter Raub oder unerlaubter Waffenbesitz begangen haben. In chilenischen Gefängnissen sitzen ca. 14 Häftlinge, die Widerstandskämpfer des Frente Patriotico Manuel Rodriguez (FPMR) oder des Mapu Lautaro (MJL) waren. „Diese Form von Demokratie hat uns keine andere Wahl gelassen. Sie hat uns verdammt weiterhin im Untergrund zu leben, auf unsere Art zu versuchen über die Runden zu kommen. Was sollten wir auch tun, wenn wir dafür ausgebildet wurden, um zu kämpfen?“, sagt Jorge Jara, der in Kuba zum Widerstandskämpfer ausgebildet wurde und von seinen Genossen im Gefängnis zum Sprecher der Ex-Untergrundkämpfer ernannt wurde. Er gehört neben Oscar Mundaca und Cristopher Vega zu den prominenteren Häftlingen, die ihre Strafe bis 2018 verbüßen müssen. Sie sind von Begnadigungen, vorzeitiger Haftentlassung, Entschädigungszahlungen und irgendwelcher Privilegien hinter Gittern ausgeschlossen. Neben Vergewaltigern, Gewalttätern und Drogendealern werden sie als gefährlich eingestuft und von den anderen Insassen isoliert.

Die Situation der Mapuche
Auch wenn der chilenische Staat es bei jeder Gelegenheit verneint, ist ebenso die politische Gefangenschaft von Mapuche eine unleugbare Realität. Der Konflikt zwischen den Mapuche und dem chilenischen Staat, Großgrundbesitzern und Konzernen wird in der öffentlichen Meinung ausgeblendet.  Infolge der politischen Verfolgung von Mapuche-Gemeinden sitzen momentan 41 Aktivisten in Untersuchungshaft oder wurden bereits zu mehreren Jahren Haft verurteilt.5 Die Urbevölkerung führt im Andenland einen historischen Kampf um die Erhaltung ihrer Kultur und um ihr angestammtes Gebiet, der bis ins Jahr 1883 zurückreicht, als die Mapuche militärisch besiegt und von den Kolonialisten in Reservate gezwungen wurden.
Die Repression durch den Staat hat auch mit dem Übergang zur bürgerlichen Demokratie nicht nachgelassen. Die Gemeinden der Mapuche sehen sich immer wieder mit mächtigen Konzernen und Großgrundbesitzern konfrontiert. Bereits während der Pinochet-Diktatur (1973-1990) sicherten sich Bergbau-, Forst- und Energieunternehmen etliche Konzessionen für die Nutzung von Mapuche-Land. Diese Politik ist von den demokratischen Regierungen fortgeführt worden, obwohl sich Chile mit der Ratifizierung der Konvention 169 des ILO-Übereinkommens international dazu verpflichtet hat, bei Projekten jeglicher Art die indigene Bevölkerung vorab zu konsultieren.
Die rechtmäßigen Forderungen und der Kampf der Mapuche werden vom chilenischen Staat kriminalisiert und mit polizeilicher Repression beantwortet. Unter Androhung von Gewalt werden von Ermittlungsbeamten Geständnisse und Anschuldigungen erpresst. Zudem werden Straftaten, wie etwa Brandstiftung, von der eigenen Polizei inszeniert und später unbequemen Aktivisten angelastet. Die Inhaftierten stehen dann korrupten und rassistischen Staatsanwälten gegenüber, die teilweise mehrere Monate brauchen, um eine zusammengebastelte Anschuldigung vor Gericht zu formulieren. Nicht selten kommt es gar nicht erst zu einer Verhandlung, da die Beweislage dermaßen dünn und inkonsistent ist, dass die Aktivisten nach mehreren Monaten U-Haft freigelassen werden müssen. Wenn es zu einem Strafprozess kommt, sind die Angeklagten demotivierten und überforderten Pflichtverteidigern ausgeliefert. Ihnen droht dann die Verurteilung durch das Antiterrorgesetz, das während der Pinochet-Diktatur in Kraft trat und die Strafhöhe für „besondere Delikte“ verfünffacht.
Vertreter der Mapuche wie Alberto Gallegos, der im Juni in Hamburg über die Lage seiner Gemeinde in Pilmaiquén berichtete, sehen in den haltlosen Anschuldigungen und Verhaftungen eine systematische Strategie zur Zermürbung des Widerstands der Indigenen. Im Juli dieses Jahres haben daher die inhaftierten Mapuches einen Hungerstreik begonnen, um gegen die willkürlichen Strafprozesse unter der Implementierung des Antiterrorgesetzes, dem Prozessablauf samt den „geheimen Zeugen“, den Haftbedingungen und der Militarisierung des Mapuche-Gebietes durch Spielkräfte der Polizei zu protestieren.

Auch Journalisten geraten ins Visier
Die Repression erstreckt sich aber nicht nur auf Aktivisten, sondern auch auf kritische Berichterstatter. Der unabhängige Fotograf Felipe Durán wurde im September 2015 von Spezialkräften der Carabineros gefangengenommen und anschließend von der Staatsanwaltschaft des unerlaubten Waffenbesitzes und Terrorismus beschuldigt. Durán hatte kritisch über die Polizeieinsätze im Mapuche-Land berichtet und stets seine Unschuld beteuert. Seinem Anwalt wurde über mehrere Monate die volle Einsicht in die Anklageakte verwehrt. Bereits am dritten der sechs anberaumten Verhandlungstage wurde Felipe Durán vom Gericht von Temuco im August, nach fast einem Jahr Untersuchungshaft, freigesprochen.


Fußnoten:

[1] Moreno responde a Morales: En Chile no hay presos políticos ni ánimo de venganza (El Mercurio Online 25.02.2016
[2] En el Chile de Bachelet no hay presos políticos, sólo delinquentes (CEME, 04.06 2007)
[3] Ex presos políticos de Talca inicia huelga de hambre por bajas pensiones, (Cooperativa 23. 06.2016)
[4] Es presos políticos cumples 54 días en huelga de hambre (DiarioUchile, 9. 06. 2016)
[5] Stand 29. August 2016 (meli.mapuches.org)