Über die Machbarkeit von Widerstand

Musa Aşoğlu

Als Freier Gefangener (Bezeichnung für ungebrochene, widerständige Gefangene; Anm. d. Übers.) befinde ich mich seit zwei Jahren in der UHA Hamburg. Die zwei Jahre sind für mich wie im Flug vergangen. Alles kommt mir wie gestern vor. Während dieser Zeit wurde ich aus Deutschland und der Türkei auf unterschiedlichste Weise – seien es Briefe, Besuche oder Soli- und Unterstützungsaktivitäten – von Kindern bis hin zu den Älteren gewürdigt. Ich hoffe, dass ich dieses Vertrauen und die Liebe verdient habe.
Wir leben in einer Zeit, in der unsere Widerstandsgründe von den herrschenden Klassen geradezu bestätigt werden. Für Menschen, die ihre Augen nicht verschließen und ihr Herz der Liebe öffnen, bleibt nichts anderes als der Widerstand.
Das Eisen wird im Feuer geschmiedet… es wird zur Hacke, zur Schaufel und zu Werkzeug verschiedenster Art, um als Brot zum Menschen zurückzukehren… es wird zu Gerechtigkeit und zu Widerstand und kehrt als Würde zum Menschen zurück.
Das Wichtigste in der menschlichen Entwicklung und des menschlichen Fortschritts ist der Glaube daran, das Mögliche im Unmöglichen erkennen zu können. Und sowohl die globale Geschichte der Revolutionen als auch die Şahans und die Borans (mit Şahan ist ein Guerillero gemeint, mit Boran sind die Freien Gefangenen gemeint; Anm. d. Übers.) unseres Landes haben dies etliche Male bewiesen.
Im Grunde hängt alles von der Erkenntnis ab, dass Widerstand keine übermenschlichen Kräfte erfordert. Und wenn es nichts Übermenschliches erfordert, dann können alle Widerstand leisten. Und das trotz all unserer Schwächen. Das Problem liegt darin, sich die Frage zu stellen, warum uns all das zustößt. Wir leben in einer Welt, in der uns unsere Unschuld nicht vor Angriffen bewahrt. Stellt euch ein jemenitisches Baby vor, das vor Hunger nur noch aus Haut und Knochen besteht. Es ist nicht gewiss, ob es bis zum nächsten Morgen überlebt. Dem Baby wird keine andere Wahl gelassen, außer mit seinem Atmen Widerstand zu leisten. Wird dieses Baby Rechenschaft für diese verdammte Ausweglosigkeit verlangen können… es ist ungewiss. Und dieses Baby hat uns nun mal die Bürde auferlegt, Widerstand zu leisten.
Ayten Öztürk ist vor unseren Augen. Sechs Monate Folter. Während der Folter sank ihr Gewicht auf 43 kg und sie hatte 868 Wunden wie Ehrenmedaillen an ihrem Körper. Ein Widerstandsnagel, gehämmert in den Gipfel des Feindes…
Ist das übermenschlich? Nein, das ist es nicht. Es übermenschlich zu nennen, wäre eine Beleidigung für Ayten. Wie heißt es: „Die Revolutionäre sind die edelste Ader der Menschheit.“ Diese Ader ist es, die Ayten den Widerstand ermöglicht. Demnach ist es möglich, ausgenommen von Gedanken und Gefühlen vollkommen entblößt mit 868 Wunden und mit nur 43 kg gegen die Folterer Widerstand zu leisten und zu siegen.
Ayten trägt die Atemzüge des jemenitischen Babys zum Morgengrauen. Es bedeutet, dass es möglich ist, einen draufzulegen und sogar mit 869 Wunden und trotz 42 kg Widerstand zu leisten.
Ein Mensch, der niemals gehungert hat, glaubt, sterben zu müssen nach drei bis fünf Tagen Hunger. Für diesen Menschen ist es etwas übermenschliches, dutzende Tage zu hungern. Aber was uns die Geschichte nicht alles gezeigt hat. Unsere Schwester Sevgi (Sevgi Erdoğan, sie starb 2001 im Todesfasten; Anm. d. Übers.) begann am 20. Oktober 2000 einen Hungerstreik und erklärte, bis zum 12. Juli 2001 nicht sterben zu wollen. Am 14. Juli 2001 gelangte sie zu ihrem Geliebten. (Ihr Ehemann Ibrahim Erdoğan wurde am 12. Juli 1992 ermordet; Anm. d. Übers.) War es übermenschlich? Nein. Denn jene, die nach ihr gekommen sind, hatten erkannt, dass die Grenzen im Gehirn überwunden werden können um voranzuschreiten.
Niemand kann von „Unmöglichkeit“ sprechen, da wir etliche Male bezeugen konnten, dass es möglich ist. Niemand kann von sich sagen, etwas nicht tun zu können. Denn solange wir unsere Augen, unser Gewissen, unsere Ohren und unsere Gefühle nicht vor der Wahrheit verschließen, können auch wir es tun. Wir können mindestens noch eins drauflegen.
Wir verfügen über eine reichhaltige Geschichte… Wir verfügen über den Vater, der um ein Stück Knochen seines Sohnes den eigenen Tod in Kauf nimmt. Wir verfügen über unseren Mohammed, der – in einem Keller eingekesselt – die Folterer dazu aufforderte, sich zu ergeben. Wir verfügen über Kemal, der kurz vor seinem Tod noch den Tilili (Jubelgesang; Anm. d. Übers.) sang und tanzte. Wir verfügen über jene, die den Namen der Hoffnung mit ihrem eigenen Blut an die Wände geschrieben haben. Wir sollten nicht fragen, was denn noch getan werden kann. Denn es gibt noch hunderte, tausende dieser Beispiele.
Das Leben ist solch ein glühendes Feuer, unser Schmied so begabt und unser Volk nimmt sich unser an wie kristallklares Wasser. Es ist unmöglich, nicht gehärtet zu werden. Es ist nicht möglich, keinen Widerstand zu leisten oder keinen Weg zu finden, der den Widerstand ermöglicht. Es ist das leichteste auf der Welt, Widerstand zu leisten.
Ich bin jenen Dank und Treue schuldig, die mir seit dem ersten Tag meiner Gefangenschaft Briefe schreiben, wöchentlich mit Parolen und Musik vor das Gefängnis kommen und seit Beginn des Verfahrens zum Gericht zur Prozessbeobachtung kommen und mir das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Ich danke jenen, die die langen Märsche und Demonstrationen organisieren, um zu zeigen, dass der Kampf gegen Faschismus und Rassismus nicht verboten werden kann. Ich danke ihrer Mühe und ihrer Opferbereitschaft.
Speziell die Briefe von unseren Kindern haben mir viel Kraft gegeben und waren sehr lehrreich. Sie haben vielleicht einige Schwierigkeiten beim Schreiben in türkischer Sprache. Aber die Stimme und Liebe ihrer Herzen waren fantastisch. Unsere Kinder haben mir nicht gesagt: „Wir unterstützen dich, wir sind bei dir, wir stehen hinter dir.“ Sie sagten: „Sei nicht traurig. Es gibt uns. Wir sind viele.“ Mit diesen Worten waren sie der unumstößliche Beweis dafür, dass das Leben und der Kampf ständig voranschreiten und in Zukunft auch voranschreiten werden. Sie haben mir die Dialektik aufs Neue beigebracht.
Gefängnisse sind Orte der Isolation. Und Isolation bedeutet Vereinsamung. Ich habe mich nie alleine gefühlt. Ein sozialer Gefangener, der die jungen Menschen sah, die am ersten Prozesstag von der Polizei angegriffen wurden, sagte mir vom Fenster: „Hätte ich so viele Menschen, die mich lieben, dann würde ich fünf weitere Jahre in Kauf nehmen.“ Sie denken vielleicht, dass ich es bin, der isoliert wird. Aber bei derartiger Annahme und Solidarität, die jede Einsamkeit und Vereinsamung geradezu an die Wand zu stellen vermag, hätte keine Isolation eine Chance gehabt.
Und ich habe mich nie isoliert gefühlt. Mitglied dieser großen Familie zu sein, die sich derart unserer anzunehmen vermag, die den Völkern der Erde die Freie Gefangenschaft vermacht und Widerstandstraditionen geschaffen hat, ist die würdevollste Auszeichnung der Welt. Teil jener zu sein, die nicht kapitulieren und nicht auf die Knie zu bringen sind, macht Widerstand zur einfachsten Aufgabe der Welt. Dieses Glück ist unschätzbar.
In diesem Sinne grüße ich euch alle und umarme euch herzlich.
Vom Widerstand zum Sieg; diese Liebe, diese Hoffnung ist unser.

In Liebe und Grüße
Musa, Freier Gefangener