Der Kiez Rigaer Str. in Berlin Friedrichshain

Einige aus der Rigaer Straße

Wie und wann ist die Rigaer Str. entstanden?

Die Rigaer Straße als Straße autonomer- und Punkkultur ist in der Hausbesetzungswelle in Ost-Berlin nach dem Fall der Mauer 1990 entstanden. Nach der Räumung der Mainzer Straße im November 1990 wurden die meisten der besetzten Häuser durch Verhandlungen legalisiert, andere geräumt. Um die zehn Wohnprojekte gibt es auch heute noch. Die Rigaer94 ist das einzige von ihnen, in dem neben einigen Mietverträgen von damals noch einige besetzte Wohnungen und Räume, unter anderem der offene Raum „Kadterschmiede“ existieren. Spätestens seit 1990 ist das Viertel von Konflikten mit der Staatsmacht und dem Verteidigungskampf gegen Kontrolle und Gentrifizierung geprägt, es gab jedoch auch ruhigere Zeiten und nicht immer wurde die Auseinandersetzung von unserer Seite so konsequent geführt wie es heute der Fall ist.

Wen wollt ihr ansprechen?

Wir richten uns an die Bewohner*innen im Viertel, an widerständige Leute überall, die in ähnlichen Konflikten kämpfen. Dabei ziehen wir einen Trennstrich zwischen Investor*innen, Haus- und Wohnungsbesitzer*innen, Denunziant*innen, Bullen und Ordnungsamt und uns, wir polarisieren. Uns geht es nicht um eine „Stadt für Alle“ sondern darum ein Stachel im Fleisch der individualisierten, menschenfeindlichen profit- und konsumorientierten Gesellschaft zu sein. Die Metropole ist ein unmenschlicher Ort, an dem kaum soziale Beziehungen unter Nachbar_innen existieren. Dies dient der optimalen Durchsetzung von Herrschaft. Um der zunehmenden Individualisierung entgegenzuwirken, müssen wir auch die Orte, an denen wir leben, als Kampffeld begreifen. Wir wollen staatliche Strukturen auf der Straße zurückdrängen und durch Selbstorganisierung und Solidarität ersetzen, dass man zum Beispiel nicht die Polizei als höhere Macht rufen sondern Konflikte auf Augenhöhe miteinander regeln.
Hier werden unsere Ideen gegen jede Autorität und Herrschaft und für die freie Entfaltung der Menschen greifbar und finden einen Nährboden, eine Basis. Unsere Kämpfe, unser Widerstand im Alltag und die Form einer kollektiven Organisierung werden sichtbar. Beispielsweise bei häufig auftretenden Bullenkontrollen, denen sich versucht wird kollektiv zu widersetzen und bei denen man versucht, sofort zur Stelle zu sein um die Betroffenen zu unterstützen. Es entsteht eine rebellische Nachbarschaft, in der Erfahrungen der Unterdrückung und des Widerstandes geteilt werden und die dadurch zum Ausgangspunkt für aufständische Perspektiven gegen die Unterdrückenden werden kann. Vermittelt wird dies über Flugblätter, Zeitungen wie die ZAD Dorfplatz, Wandzeitungen, regelmäßige Veranstaltungen, auch auf der Straße, und Essen gegen Spende in unseren öffentlich zugänglichen Räumen. Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass es auch Einige gibt, die uns feindlich gesinnt sind, die die Gewalt dieses Systems als „Frieden“ bezeichnen und diesen erhalten wollen.

Warum in diesem Viertel? Was für ein Stadtteil ist das?

Der Kiez ist stark von Gentrifizierung betroffen. Die Bewohner*innenschaft hat sich von linken Wohngemeinschaften und Geringverdiener_innen hin zu einer bürgerlichen Mittelschicht in teuer sanierten Altbauten oder neuen Luxusbauten gewandelt. Es kann nicht von einem Kiez der Ausgegrenzten / Marginalisierten gesprochen werden. Teilweise wirken die verbliebenen Hausprojekte wie ein Relikt einer anderen Zeit. Gleichzeitig prägen Plakate, Graffitis, Transparente und Subkultur das Straßenbild. Im Viertel herrscht also ein Spannungsfeld zwischen einer gut situierten Bewohner*innenschaft und linksliberaler Ordnungshörigkeit, Subkultur und offenem Konflikt gegen Autoritäten und Profiteuren der kapitalistischen Stadt. Ein Zitat der B.Z. (Springer) zeigt dies ganz gut. Während der Auseinandersetzungen zwischen Innensenat, Bullen und der Rigaer94 Anfang 2016 vermeldete sie: „Die Ermittler hoffen dabei auch auf die Verdrängung der Autonomen aus den Kiezen durch steigende Mieten. Und so in Verbindung mit Druck ‚ein Klima zu schaffen, in dem die Linken von alleine gehen‘ […] Präsenz, Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen sollen massiv zunehmen. „Wir werden denen keinen Freiraum lassen“[1] Generell lassen sich grundlegende Muster bei den Aufwertungsprozessen von Stadtteilen erkennen. In der Presse wird meist eine intensive Hetzkampagne gegen ein bestimmtes Viertel oder einen Straßenzug geführt, „Problemkieze“ entstehen. Behauptet wird eine zunehmende Verwahrlosung durch Müll, kriminelle Jugendliche, Migrant*innen, Säufer und Hartz4-Familien. Der Kiez würde kippen, Polizei und Politik sollten handeln. Diese warten nur auf jene Stichwörter um zusammen mit anderen Behörden einzugreifen, Brandbriefe von Schulen und Gewerbetreibenden wechseln sich ab mit Meldungen von Menschenmengen die Polizeieinsätze stören würden. Quartiersmanagements entstehen und bürgerliche und „linke“ Kiezgruppen bemühen sich das Image des Viertels zu verbessern. Man einigt sich auf den Diskurs für eine „Stadt für Alle“, Gelder fließen aus EU-Fördertöpfen, Investoren werden angelockt und die Presse schreibt vom Charme des aufstrebenden Straßenzugs.
In diesem Viertel wurde ab 2006 / 2007 rechtzeitig in einen solchen Prozess eingegriffen. Während viele der ehemalig besetzten Projekte in Berlin befriedet wurden, konzentrierten sich hier Leute, die den Ort an dem sie leben oder viel frequentieren, als Kampffeld verstehen. Es wurde nicht versucht, ein positives Bild des Viertels zu verbreiten sondern ein wirklich problematisches Klima für Investoren, Besserverdienende und Bullen zu schaffen. Brennende Autos, laute Partys, Steinwürfe auf Streifenwägen, Müll auf den Straßen – das Gebiet sollte nicht so leicht gentrifiziert werden wie andere.
Dies löste massive Polizeieinsätze als auch eine Polarisierung unter den Anwohner*innen aus, die sich für eine Seite des Konflikts entscheiden müssen. Während einerseits Nachbarschaftsgruppen und Solidarität entstehen, wächst bei anderen eine feindliche Stimmung gegen unsere Strukturen. Dies lässt sich vor allem aktuell beobachten. In dem Prozess gegen Isa wird deutlich, dass in diesem Kiez rechte Anwohner*innen mit der Polizei kollaborieren und äußerst willig als Denunziant*innen auftreten.
Ein Versuch, nach dem breiten erfolgreichen Widerstand gegen die Räumung der Kadterschmiede 2016, mithilfe eines Runden Tisches im Dialog mit Bezirk und Polizei den Konflikt zu befrieden und in kontrollierbare angepasste Bahnen zu lenken scheiterte an unserer konsequenten Ablehnung von Verhandlungen mit den Herrschenden.

Wer ist im Viertel/Zentrum organisiert? Wie ist euer Verhältnis zu anderen Einrichtungen?

Vor allem in den Hochzeiten des Gefahrengebietes 2015 / 2016 gab es das Rigaer Straßenplenum, in dem sowohl Bewohner*innen der Hausprojekte des Nordkiezes von der Liebig34, Rigaer94 bis zur Rigaer78 und Häusern in Voigt- und Samariterstraße als auch normale Mieter*innen zusammen kamen. Dadurch gab es einen Aufschwung an Organisierung über die einzelnen Häuser, jedes für sich, hinaus.
2016 initiierten wir mit die erste Kiezversammlung, die daraufhin einige Male stattfand. Der politische Fehler Henkels, die gesamte Bewohner*innenschaft durch die Installierung des Gefahrengebietes („kriminalitätsbelasteter Ort“) unter Generalverdacht zu stellen und mit täglichen Kontrollen zu schikanieren befeuerte das Entstehen der Identität rebellischer Kiez: Wir gegen die Bullen. Wir erleben alle die gleiche Unterdrückung. Sobald die direkte Betroffenheit jedoch mit dem Niedergang des Gefahrengebietes abnahm, wurde auch die Beteiligung an den Versammlungen schnell geringer. Bald sahen wir die Gefahr, dass aus den Kiezversammlungen eine Art Kiezparlament mit Beteiligung von Politiker*innen der Grünen und Linken entstehen würde und haben mit dahin gewirkt, diese wieder zu beenden. Wir befürworten den Aufbau kleiner autonomer Zellen von Menschen, die sich in ihren Kämpfen aufeinander beziehen, in einem regen Austausch stehen und Politik der 1.Person betreiben. Positiv für den rebellischen Kiez ist, dass sich aus den Kiezversammlungen heraus Leute organisierten, die gegen die Pläne der CG-Gruppe, Luxusbauten in der Straße zu errichten, kämpfen und sich viel mit anderen Stadtinitiativen vernetzen.
Am Dorfplatz befindet sich zudem das FLTI*-Projekt Liebig34. Das Haus bereitet sich momentan auf den Kampf gegen den berüchtigten Spekulanten Padovic vor, weil der Pachtvertrag Ende des Jahres ausläuft. Sie werden nicht alleine gegen eine drohende Räumung stehen. Nachdem die Liebig14 im Februar 2011 geräumt wurde, ist die Liebig34 das letzte Projekt, das direkt am Dorfplatz steht. Eine Räumung würde auch ein Ende dieses Ortes bedeuten.
Ein rebellischer Kiez braucht einen öffentlichen Ort für Kommunikation. In der Rigaer Straße ist dies die Kreuzung Liebigstraße / Rigaerstraße, auch Dorfplatz genannt, ein öffentlicher „Platz“ ohne Zugangsbarrieren. Es ist ein umkämpfter Ort, an dem es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den Bullen kam, an dem vor allem in früherer Zeiten Leute oft vorbei kamen, sich kennen lernten, sich radikalisierten. In letzter Zeit wird der Dorfplatz oft von Hundertschaftsbullen belagert und dadurch von staatlicher Seite versucht, uns diesen „common space“ zu entreißen.

Wer ist Euer Publikum?

Unser Publikum fluktuiert stark. In Zeiten von direkten Bullenangriffen kommen viele Leute aus der ganzen Stadt, auch überregional und international hier zusammen. Im Alltag sind es eher solidarische Nachbar*innen und Freund*innen, weil die momentan dauerhafte Präsenz der Bullen am Dorfplatz viele Menschen abschreckt. Aber auch Menschen, die wissen, dass sie bei uns nichts für einen Teller Essen bezahlen müssen, wenn sie nicht können, dass sie hier auf eine ermutigende Stimmung gegen die Alltäglichkeit staatlicher und struktureller Gewalt stoßen und sich davon angezogen fühlen. Und es kommen jetzt auch mehr Jugendliche, die hier einen offenen Raum als Jugendclub nutzen können.
Außerdem gibt es seit einigen Monaten die solidarische Bäckerei „Schwarzbrot“. Zwei mal wöchentlich wird Brot gegen Spende vor der Haustür der Rigaer94 verteilt. Merklich entstehen dadurch mehr Gespräche mit Leuten, die ihre Berührungsängste abbauen. Ganz praktisch zeigt das Brotbacken was auch hinter der Idee solidarischer und selbstorganisierter Strukturen steht.

Nach dem G20-Gipfel gab es die Ansage, Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols oder Räumung. Wie ist das bei Euch?

Wir distanzieren uns von allen Äußerungen, die einen Unterschied zwischen gerechtfertigtem Protest gegen G20 und „unpolitischen“ Krawallen machen, um die eigenen Räume zu retten. Das staatliche Gewaltmonopol erkennen wir nicht als Monopol an, im Gegenteil werden wir es immer bekämpfen. Um dieses Haus zu räumen, müsste der Staat es schon zerstören, um uns zu beseitigen. Wir haben keine Angst vor den Drohungen profilierungssüchtiger Politiker*innen.
Seit 2016 gab es jedoch einen Wandel in der Strategie der Politik, was uns betrifft. Der Hardliner Henkel (CDU) wurde von Geisel (SPD) als Innensenator abgelöst und es herrscht eine rot-rot grüne Regierung. Die Repression ist wesentlich präziser, der Fehler alle Bewohner*innen des Kiezes zu kriminalisieren wurde als solcher von unseren Feinden erkannt. Das Netz der Solidarität und Verbundenheit, das dadurch geschaffen wurde, ist jetzt weitaus schwieriger am Leben zu erhalten, da viele Menschen sich nicht direkt betroffen fühlen. Gezielt werden Einzelne mit Repression überzogen, um sie aus dem Netzwerk des Widerstandes herauszulösen. Ein Beispiel davon ist Isa, ein Bewohner der Rigaer94, der seit Ende März in Untersuchungshaft in Moabit sitzt.[2] Ebenso Nero, der kurz nach dem G20-Gipfel im Juli 2017 eingeknastet wurde. Bei beiden arbeitet der Staatsschutz konzentriert daran an ihnen die rebellischen Taten und Worte der Rigaer Straße zu vergelten. Insgesamt kann man sagen, dass die Anzahl der Anzeigen die gegen die Bewohner*innen und Freund*innen der Rigaer 94 laufen bis ins Dreistellige gehen.
Für uns ist das jedoch kein Anlass aufzugeben. Die Rigaer Straße wurde schon oft als Feindbild herangezogen, wenn es erfolgreiche Angriffe gegen den Normalzustand gab. Es sind leere Worthülsen, die dazu dienen, den Staat weiter als Garant für Recht und Ordnung darzustellen und Ordnungsfanatiker*innen und Nazis gegen uns aufzuhetzen. Klar ist, wie umkämpft dieser Ort ist. Hand in Hand mit faschistischer Bedrohung arbeiten die Bullen hier mit klassischen Methoden der Aufstandsbekämpfung. Ein Beispiel sind die Drohbriefe im Dezember 2017 als Antwort auf unseren offensiven Fahndungsaufruf mit Bildern von 54 Polizeibeamt*innen während der G20-Hetzfahndungen.
Von staatlicher Seite wird die Rigaer Straße als rechtsfreier Raum bezeichnet. Nach unserer Vorstellung bedeutet dies, dass sich das Recht der Herrschenden in einem bestimmten Gebiet nicht durchsetzen kann, zumindest nur mit erheblichen Anstrengungen und wiederkehrenden Eskalationen. Das versteht sich im Gegensatz zum rechtlosen Zustand, den der Staat für „problematische“ Schichten, für die Ausgegrenzten dieser Gesellschaft, vorsieht. Wir haben uns den Begriff angeeignet und setzen ihn mit dem Begriff des rebellischen Kiezes gleich. Wir werden weiter für ein Leben ohne Herrschaft, Staat und kapitalistische Werte kämpfen und auch wenn ein paar aufeinander gebaute Steine zerstört werden sollten, wird das nicht unsere Ideen zerstören.


[1] (Quelle: https://www.bz-berlin.de/berlin/friedrichshain-kreuzberg/nach-der-razzia-griffen-chaoten-in-der-rigaer-ein-paerchen-an)

[2] Isa ist seit dem 23.Juli wieder frei: Nach halbstündiger Beratung verkündete die Vorsitzende Richterin den Beschluss des Schöffengerichts, dass die U-Haft außer Vollzug gesetzt wird. Drei weitere Prozesstage sind aber noch für den 13., 20.und 27. August angesetzt. (Red.)