Wahnsinn und Gesellschaft

Kritischer Wahnsinn

„Wir leben in einer repressiven Gesellschaft und in dieser Gesellschaft ist es sehr einfach auszurasten, oder vielmehr ist es sehr schwer auszurasten. Weil du in einem Krankenhaus landest, aber es wollen viele Leute ausrasten.“

(Howie Harp, Schizo culture event 1975, Runder Tisch über Knast und Psychiatrie)

Die Repression unter dem Kapitalismus nimmt auf verschiedene Art und Weise Einfluss auf die Gesellschaft. Kapitalismus beruht auf Ausbeutung und reproduziert verschiedene Arten der Diskriminierung, unter der die Unterdrückten dieser Gesellschaft leiden. Frustration ist eines dieser Phänomene. In dieser individualistischen Gesellschaft wird Solidarität kein Wert mehr beigemessen. Wir sollen uns auf unsere individuellen Probleme konzentrieren und sie losgelöst von den gesellschaftlichen Umständen sehen. Die Tatsache, dass wir in einer individualistischen Gesellschaft leben, ist an und für sich schon frustrierend, so müssen wir uns in unserem Alltag mit verschiedenen Ängsten, Depressionen, Traumata und Frustrationen und anderen bekannten Konzepten auseinandersetzen. Und über Diskriminierung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit nachzudenken, ist an und für sich traumatisierend. Diese vermeintlich psychologischen Probleme sind nicht nur auf eine bestimmte Gruppe von Menschen beschränkt. Es ist fatal, diese Probleme losgelöst von ökonomischen, sozialen und politischen Tatsachen zu behandeln.
Die Mehrheit der Menschen lebt unter der Armutsgrenze. Die oben benannten Themen betreffen somit zudem die Mehrheit, auch wenn die psychiatrische Praxis versucht, diese herunterzubrechen und zu labeln. Was dann passiert, ist wie so oft eine Trennung und Spaltung. Der Kapitalismus fördert den Individualismus, die Betroffenen denken an ihr eigenes Überleben, auch in einer Gesellschaft, in der unser Leben nicht direkt von der Lohnarbeit abhängt. Die Arbeiterin entfremdet sich vom Produktionsprozess, vom Produkt und von den Menschen, mit denen gearbeitet wird. Es gibt keine Kontrolle mehr über die Arbeit, doch die Arbeitsprozesse werden ständig stärker kontrolliert. In unserer Gesellschaft zeigt sich ein ähnliches Schema. Wir werden zunehmend kontrolliert und sollen nur noch funktionieren. Unsere Arbeitskraft stellt unseren Wert in dieser Gesellschaft dar. Wir sollen Profit schaffen, aber nicht zwingend materiellen Profit. Wir können auch Profit schaffen, indem unsere Arbeit hilft, dieses System aufrecht zu erhalten. Können wir diesen Profit nicht leisten, dann sollen wir wenigstens nicht stören. Von diesem Aspekt profitiert die Psychiatrie. Es geht nicht darum, dieses Problem zu lösen, geschweige denn dies als sozial-politisches Thema anzugehen. Es wird versucht, den Menschen „normal“ zu machen, wobei die Gesellschaft und das System nicht als Problem gesehen werden. Es stellt sich die Frage, was „normal“ ist und wer das definiert. Ist eine normale Person eine, die Teil einer Kernfamilie ist – einer Familie, wo jede Person 40 Stunden die Woche arbeitet? Die Hausarbeit wird nicht mit einberechnet, nur die Lohnarbeit zählt. Abends müssen wir uns Gedanken machen, wie wir die Arbeitskräfte für den nächsten Tag reproduzieren können. In Gesellschaften wie Deutschland gibt es eventuell die Möglichkeit, Urlaub zu nehmen oder einer Gewerkschaft beizutreten, um diesen Widerspruch etwas aufzulockern. Natürlich nur, wenn du als legale Person in diesem Land bist. Wenn wir frustriert sind über die Arbeit, dann gibt es Ärzte, welche uns mit Methoden wieder funktionsfähig machen sollen. Pillen nehmen wäre die einfachste Methode. Nach einem kurzen Gespräch finden die Ärzte die Symptome unserer Frustration und können uns in Schubladen stecken. Entsprechend dieser Schubladen können sie uns verschiedene, legale Medikamente verschreiben. Medikamente von Konzernen, mit denen sie vielleicht auch zusammenarbeiten. Diese Pillen sollen uns zu Bürgerinnen machen, die niemandem einen Schaden zufügen, uns selbst eingeschlossen. Wir sollen wieder glücklich werden, doch die Realität in diesem System lässt nicht zu, dass wir wahrlich glücklich werden können. Es liegt nicht in der Natur des Kapitalismus, ein Glück außerhalb des vorgegebenen Rahmens zu erfahren. Anstelle einer Kritik an dem System, welches uns unterdrückt und uns nicht erlaubt, genug produktive und glückliche Gefühle zu haben, will die Psychiatrie uns ruhig halten und gefügig machen, damit wir in diesem System nicht auffallen. Der Grund unseres Leidens sei unsere angebliche Depression und nicht dieses krankmachende, unnatürliche System, welches unsere Depressionen verursacht.
Sozialarbeiterinnen, Pädagoginnen, Streetworkerinnen sind die erste Instanz, um dich funktionsfähig zu machen. Das Jobcenter mit seinen Maßnahmen und Bestrafungen ist ein weiterer Aspekt. Die regulären Ärzte achten nicht auf die Realität der Umstände, sondern gucken sich unseren Bluttest an und diagnostizieren den Mangel dieses oder jenes Vitamins.
Widersetzen wir uns diesem System, kann es noch zu einem weiteren Label kommen: das der Kriminellen. Sie werden uns inhaftieren, die Securities, Polizei und Gerichte werden versuchen, uns aus dieser Realität zu entfernen. Sie entfernen uns zwar aus dieser Gemeinschaft, jedoch sollen wir auch weiterhin unseren Aufgaben nachkommen und der Gesellschaft außerhalb einen Nutzen bringen. In der Psychiatrie ist es ähnlich. Die ständige Überwachung ist ein Kontrollmechanismus. Es bedeutet nicht zwingend, dass wir ständig überwacht werden, doch der Fakt, dass wir jederzeit funktionieren müssen und dies auch kontrolliert werden kann, ist ein Ausdruck der Macht [1], welcher sowohl in der Gesellschaft durch Überwachung und Geheimdienst, als auch im Gefängnis und der Psychiatrie angewendet wird. Der „Patient“ wird durch die psychiatrische Behandlung zu einem Subjekt dergleichen: ein psychiatrisches Subjekt. Foucault sagt auch, dass durch die Spiegelung der Psychiatrie die Kategorisierung des „Patienten“ stattfindet. Die Person wird zum psychiatrischen Subjekt gemacht. Diese Zuschreibung wird an seine Identität gebunden. Diese Identität macht die Person abhängig und legitimiert die psychiatrische Kontrolle. Durch die Psychologisierung unseres Seins und der ständigen Kontrolle wird in der Psychiatrie versucht, uns zu entmenschlichen, jede Sekunde unseres Daseins soll kontrolliert werden, wir sollen entmächtigt werden, es wird hundertprozentige Kontrolle über uns ausgeübt.
Unsere Reaktion auf die Unterdrückung soll nicht als legitim angesehen werden, sie wird im besten Fall als eine Störung diagnostiziert. Wir werden reduziert auf den Status eines Kriminellen oder eines Opfers. In beiden Fällen sind wir nicht mehr das Subjekt der Veränderung. Entweder müssen wir uns domestizieren lassen, uns beruhigen oder einsperren lassen. Einsperren in die Medikamentenindustrie, die Psychiatrie oder das Gefängnis. Wir werden zu diesem gefährlichen Wesen, das eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt, keine zwingend physische sondern auch eine geistige Gefahr. Diese Person mit ihrem Verhalten muss beruhigt werden, diese Gedanken sollen zum Schlafen gebracht werden. Wir sollen fröhliche Gedanken haben, auch wenn es eine verfälschte, temporäre Freude ist. Fantasien sind nicht erwünscht. Wir sollen nicht an Utopie denken, geschweige denn daran glauben. Wir sollen nicht wütend sein, höchstens auf uns selbst, weil wir es nicht schaffen, den Standards dieser Gesellschaft zu entsprechen. Wir dürfen sauer auf uns sein, aber wir sollen uns nicht verletzen. Wenn wir uns selbst verletzen, sind wir an einem Punkt angekommen, wo dieser Körper sich selbst als Problem sieht. Er wird weggesperrt und zu unserem Schutz mit Medikamenten ruhiggestellt. In dem Moment, wo wir die Gewalt des Systems erkennen und benennen, werden wir zu einer Gefahr. Wut, welche in Gewalt münden kann, wird psychologisiert. Es wird nicht erkannt, dass dies eine Reaktion auf eine systematische Gewalt ist, welche real existiert und funktioniert. Das System wird seine eigene Gewalt nicht anerkennen. Es wird nicht anerkennen, dass sie auf Gewalt aufgebaut ist und diese benötigt, um sich selbst aufrecht zu erhalten. Als Lösung sind verschiedene Selbstoptmierungsbranchen entstanden: Yoga, Meditation, Medikamente, Ärzte, Kliniken, Krankenhäuser. Übertreten wir eine Grenze, werden wir zu einer potenziellen Gefahr. Wir sind nicht wichtig, die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Systems haben die höchste Priorität. Es ist einfach, uns zu stigmatisieren und uns aus diesem vermeintlich fehlerfreien System zu domestizieren, zu isolieren, zu entfernen und wenn dies nicht hilft, uns zu töten.
Die Psychiatrie ist der Missbrauch des Wissens der Psychologie, und was wäre die Lösung, um diesen Missbrauch zu stoppen? Es wäre notwendig, bezüglich dieses Themas kritisch zu sein und nur möglich durch die Solidarität miteinander auf verschiedenen Ebenen. Wenn wir mit Howie Harps Zitat übereinstimmen und akzeptieren, dass alle ausrasten wollen in dieser Gesellschaft, dann sollte unsere Reaktion gegenüber jenen, welche bereits ausgerastet sind, anders sein als wie sie gerade ist. Wir wären vorsichtiger mit dem Labeln von „geistigen Krankheiten“. Das, was wir als „Störungen“ benennen, müssten wir als normale Reaktion auf unsere kaputte Gesellschaft sehen. Wir können keine echte Solidarität haben, ohne zu verstehen, was jetzt und seit Jahrzehnten passiert.
Diese Solidarität können wir in verschiedenen Formen ausüben, abhängig von unserer Rolle in der Gesellschaft. Wir können in einer kleinen Gesellschaft anfangen, wie in der Familie, mit Freundinnen und Genossinnen, mit Verständnis, der Ablehnung von Zuschreibungen, ohne Ausübung von Druck und der nicht-Isolation unserer Freundinnen, um die Reproduktion der Urteile zu stoppen, welche die Gesellschaft uns aufdrängt. Wir können solidarisch mit unseren Mitarbeiterinnen sein, welche durch die Ausbeutung gereizt und müde sind. Wir sollten aufhören, sie „verrückt“ zu nennen. Wir müssen die institutionelle Repression des Systems erkennen, den Rassismus, Sexismus, die Heteronormativität und den Effekt, den es auf das Leben der Menschen und auf ihre geistige Verfassung hat. Ihre Wut anerkennen. Wir können aufhören, uns selbst und gegenseitig Vorwürfe zu machen für die strukturelle Repression und Ausbeutung, von welcher wir alle betroffen sind. Nach diesem ersten Verständnis sollten wir über einen Versuch echter, organisierter Solidarität nachdenken. Abhängig von unserer Position sollten wir versuchen, uns zu organisieren gegen die Repression, welche uns zuerst in diese Situation drängt, um uns hinterher als Verrückte zu labeln. Wir können unseren Wahnsinn als Waffe gegen die systematische Repression nutzen. Wenn sie uns als Patientinnen verrückt nennen, sollten wir uns alle vereinen und uns stärken gegen alle Formen des Systems, das tägliche Leiden und die Psychiatrie inbegriffen.

Nach alldem ist es sehr wichtig zu verstehen, wie diese Matrix von Unterdrückung und Ungerechtigkeit miteinander verbunden ist.
Wir sollten uns gegenseitig stärken und verstehen, warum es sehr wichtig ist, unsere Kämpfe miteinander zu verbinden und uns zu stärken.

[1] Foucault: Discipline and Punish- the birth of prison, 1991