Ungarn: Orbàns Exempel

„Free the Röszke 11“- Kampagne

Seit 2,5 Jahren sitzt Ahmed H. in Ungarn im Knast. Er wurde 2016 dort als Terrorist zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er teilt sich im Knast in Budapest die Zelle inzwischen mit einem Mitgefangenen, doch Kontakt zu anderen Gefangenen ist ihm untersagt. Beim Hofgang und Essen muss er allein bleiben, bis vor kurzem konnte er auch keine Briefe und keinen Besuch empfangen, kurze Telefonate mit seiner Familie waren lange Zeit der einzige Kontakt zur Außenwelt.
Hintergrund des Urteils ist die Schließung der Balkanroute zwischen Serbien und Ungarn im „langen Sommer der Migration“, als täglich Tausende die Grenze in Richtung Österreich, Deutschland oder weiter nach Norden überquerten. Die betroffenen EU-Staaten freilich taten ihr möglichstes, um die Kontrolle über die selbstbewusste Durchsetzung des Rechts auf Bewegungsfreiheit wiederzuerlangen. Es wurde ein formalisierter Korridor geschaffen, selbstorganisierte Supportstrukturen mussten staatlichen Akteuren weichen, Zäune wurden hochgezogen. In Ungarn trat zum 15. September 2015 über Nacht ein Gesetz in Kraft, das die »illegale Einwanderung« als Straftat mit bis zu fünf Jahren Haft kriminalisierte. Gleichzeitig wurde das letzte Stück des Zaunes am Grenzübergang Röske/Horos geschlossen. Doch aus Serbien erreichten weiterhin tausende Menschen die Grenze und stauten sich dort. Auf heftige Proteste für das Recht auf Bewegungsfreiheit folgten Szenen von Polizeigewalt. Dabei wurden 11 Geflüchtete festgenommen und inhaftiert, die „Röszke 11“, die nach bis zu zwei Jahren Haft inzwischen Ungarn verlassen konnten.
Ahmed soll die Unruhen angeführt und die Polizei zum Öffnen der Grenze aufgefordert haben. Nach ungarischem Recht kann dies als „terroristischer Akt“ ausgelegt werden. Grundlage für die Verurteilung sind Polizeizeug*innen sowie Polizeivideos und TV-Berichte.
Im aktuellen Prozess werden diese Aussagen und Videos verlesen bzw. erneut vorgeführt. Sämtlichen Aufnahmen ist gemeinsam, dass sie wenige Minuten vor dem Moment enden, in dem die ungarische Polizei- und Terroreinheiten überraschend die im Grenzbereich wartenden Menschen, darunter viele Kinder und Kranke, mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfer angriffen und zum Teil schwer verletzten. Erstmalig glich man die in den Aussagen enthaltenen Personenbeschreibungen mit dem vorhandenen Filmmaterial ab: Einige Vorwürfe gegen Ahmed, er habe Polizeikräfte verbal oder mit Gesten gedroht, stellten sich damit als falsch heraus. Die TV-Ausschnitte belegen zudem, dass dieser zwischen der Menge und der Polizei vermittelte. Die Videos zeigen auch wie er etwas wirft, Gegenstand und Ziel konnten aber nicht festgestellt werden.
Vermutlich sind diese „Feinheiten“ für das Urteil aber nebensächlich, denn für Justiz und Regierung steht Ahmeds Schuld bereits fest: Schon das Urteil in erster Instanz zu 10 Jahren Haft war klar politisch motiviert. Premierminister Viktor Orbàn nutzt dies bis heute zur Legitimation seiner rassistischen Abschreckungspolitik. Die enge Verbindung von „Migration“ und Terrorismus“ bildet nach wie vor ein Hauptnarrativ der Regierung. Deren offizielle Facebookseite bekräftigt dies: Dort heißt es „Ahmed H. ist ein Terrorist“, es folgen Fotos von Szenen am Grenzübergang Röszke vom 16.9.2015. Verlinkt ist dort die Internetseite des Justizministeriums, auf der Paul Völner, Staatssekretär und Mitglied der Regierungspartei Fidesz die Rüge der EU-Kommission und die Kritik internationaler Menschenrechtsorganisationen am Urteil und der ungarischen Flüchtlingspolitik zurückweist. Doch ist die Kritik der EU scheinheilig, denn nicht nur Deutschland profitiert von Orbáns Grenzregime. Derzeit rücken Ungarn und Deutschland noch näher zusammen: mit Horst Seehofer als deutschem Innenminister – und engem Freund Orbàns.
Der Termin der Urteilsverkündung am 19. März findet mitten im Wahlkampf für die ungarischen Parlamentswahlen am 8. April 2018 statt. Es stellt sich die Frage, wie unabhängig ist das Gericht in Szeged, wenn Justizministerium und Regierung ihr Urteil über Ahmed bereits gefällt haben?
Im Fokus der ungarischen Repressionsbehörden stehen auch die Unterstützer*innen. Bei jeder kleinen Soli-Aktion ist die Polizei allgegenwärtig und verfolgt vor allem die Aktivist*innen mit ungarischem Pass. Orbàn bastelt aktuell an einem Gesetz, um sämtliche antirassistischen Initiativen, die Spenden aus dem Ausland erhalten, zu verbieten. Dies gilt auch für Organisationen wie Amnesty Ungarn und das Helsinki-Komitee, das Geflüchtete in Ungarn rechtlich unterstützt.
Seit September 2015 herrscht in Ungarn der Ausnahmezustand, begründet wird er bis heute mit der sogenannten „Massenmigration“, obwohl Ungarn im Jahr 2017 nur 3.397 Geflüchteten einen Asylantrag zu stellen ermöglichte. Die geschlossenen Lager in den Transitzonen, in die Asylbewerber*innen regelhaft über Monate eingesperrt werden, sind militarisiertes Niemandsland. Die illegalisierte Einwanderung wird mit dem zweifach gesicherten Grenzzaun, legalisierten Pushbacks(Rückschiebungen über die Grenze nach Serbien, an sich nicht legal. Ungarn hat diese Praxis durch Gesetze legalisiert.) nach Serbien aus dem gesamten ungarischen Staatsgebiet und einem aggressiven Grenzschutz nach wie vor konsequent bekämpft.