Beiträge von Gefangenen aus dem Münchner ATIK-Prozess – Text von Müslüm Elma

Müslüm Elma, 30. September 2017

Vorab gedenke ich respektvoll den genannten Revolutionären am 40. Jahrestag ihres Todes. Wenn wir zu euren Fragen kommen: Bevor ich eine Beurteilung des konkreten Problems vornehme, möchte ich hinsichtlich dieser und ähnlicher Praktiken bestimmte Erfahrungen aus unserem geographischen Gebiet wiedergeben. Diese Informationen bieten gleichzeitig einen Beitrag auf Mindestebene, um die Ereignisse zu bewerten, die sich hier ereignet haben. Denn wir wissen, dass – auch wenn die geographische Lage eine andere ist – wenn das Problem der gerechte Kampf der unterdrückten Völker und des internationalen Proletariats ist, blicken alle Banditen in dieselbe Richtung. Dieselben Dinge wiederholen sich immer wieder in unterschiedlichen Sprachen. Dies ist keineswegs verblüffend. Im Gegenteil, es sind die in Einigkeit umgesetzten konterrevolutionären Maßnahmen in den eigenen Ländern. Und was die Intensität und den Umfang dieser Maßnahmen bestimmt, ist das Auseinandersetzungsniveau der klassenbewussten Organisationen der Unterdrückten.
Wir wissen, dass in der Geographie der Türkei dutzende Revolutionäre bei Polizeiverhören unter Folter ermordet worden sind. Trotz dessen besteht der Inhalt von sämtlichen offiziellen Mitteilungen des Staates aus Folgendem: „Selbstmord durch Springen aus einem offenen Fenster durch Zunutzemachen eines Augenblicks der Zerstreutheit der Beamten.“ Oder es heißt: „Er/Sie hat den Kopf gegen die Wand gestoßen.“ Oder: „Er/Sie hat sich erhängt“. Bei Ermordungen auf offener Straße werden fiktive Straßenkämpfe erdacht und bei Verschwinden während des Gewahrsams wird der Refrain des Abstreitens ohne Überdruss wiederholt.
Werte Freunde, grundsätzlich können wir sagen; es ist schwieriger Geschichte zu schreiben, als Geschichte zu machen. Denn, Geschichte ist, was gelebt wird. Und was gelebt wird, ist die Wahrheit. Und die Wahrheit mit all ihren Ursachen und Auswirkungen darzulegen, erfordert eine wissenschaftliche Haltung sowie eine objektive Annäherung.
Dabei sind den herrschenden Klassen jegliche wissenschaftliche und menschliche Vorzüge fremd. Ihr Dasein begründet sich auf den Kampf gegen die Wahrheiten. Sie schreiben die Geschichte nicht ausgehend von objektiven Tatsachen. Sie schreiben zum Vorteil ihrer Interessen, so wie sie es sehen möchten. Und das ist, was als offizielle Geschichte bezeichnet wird. Und diese Probleme der Geschichte der türkischen, herrschenden Klassen zeigen uns die Realität auf, dass wir uns den Erklärungen seitens der Herrschenden mit Skepsis annähern müssen. Auch in dieser konkreten Frage ist es äußerst verständlich und realistisch, den offiziellen Erklärungen zu misstrauen.
Was hierbei eigentlich als Grundlage herangezogen werden muss, ist die Aussage der Überlebenden, wo es heißt: „Für uns war klar, Selbstmord ist nicht Sache. Wir sind entschlossen zu kämpfen … Ich habe mir die Verletzungen nicht selbst beigebracht.“ Denn diese Aussagen beleuchten ebenso in bedeutendem Maße die allgemeine Haltung der Revolutionäre, die zu dieser Zeit inhaftiert waren.
Es stimmt, dass die Annahme falsch ist, die Lügen der herrschenden Klassen könnten Stück für Stück problemlos aufgedeckt werden. Aus diesem Grund vermögen es diese Lügen in bestimmten historischen Phasen, die Tatsachen zu überschatten. Aber auch Tatsachen sind trotzig. Wie die Sonne verbleiben sie hinter keiner Wolke.
Was die neuen Generationen vor allem erkennen müssen, ist die Tatsache, dass die herrschenden Klassen Feinde der Wahrheit sind. Wenn dies erkannt wird, dann könnte womöglich das Belegen einiger konterrevolutionärer Aktionen der Herrschenden anhand konkreter Daten immer noch schwierig sein. Aber es bestünde keinerlei Zweifel mehr hinsichtlich der Einstellung der bestehenden Herrschenden, mitleidloseste Politiken gegen die Bevölkerung und ihrer klassenbewussten Organisationen anzuwenden. Im Falle der Konfrontation mit solchen und ähnlichen praktischen Resultaten gäbe es keine Zweifel daran, die Tatsachen zu beschreiben und sich auf deren Seite zu positionieren.
Zweifellos nähern wir uns Ereignissen und Umständen nicht auf emotionaler Grundlage, sondern auf wissenschaftlicher Grundlage. Diese Annäherung macht es notwendig zu hinterfragen und das Problem vielschichtig zu behandeln. Ich weiß, dass es „Selbstmord“-Fälle gibt, obwohl ich so etwas in meiner Haftzeit selbst nicht erlebt habe. Hier aber weisen die zahlenmäßige Situation, die zeitliche Abstimmung, usw. große Differenzen auf. Wenn all das zusammen mit der historisch bestehenden Klassenfeindschaft betrachtet und bewertet wird, dann ist es nur allzu natürlich, dass offiziellen Erklärungen von Seiten großer Kreise keine Beachtung geschenkt wird. Außerdem ist der Revolutionismus eine Kunst des Krieges gegen Schwierigkeiten. Es ist auch eine Tatsache, dass dieser Krieg auf Grundlage von einzelnen Subjekten als auch von Parteien in bestimmten Abschnitten des Klassenkampfes Niederlagen beinhaltet. Dass dies stimmt, kann kein Beweis dafür sein, dass die offiziellen Erklärungen stimmen.
Fazit: das kapitalistisch-imperialistische System ist für all diese Ereignisse verantwortlich. Und der Kampf gegen sie ist gerecht und legitim. Alle Revolutionäre, die dafür gestorben sind, verdienen es, in Respekt geehrt zu werden. Und die neuen, jungen Generationen müssen alle Ereignisse und Umstände zusammen mit den historischen Bedingungen behandeln und bewerten. Bewertungen, die von historischen Bedingungen entfremdet sind, können uns zu fehlerhaften Ergebnissen führen. Darauf muss geachtet werden.