1977 – 40 Jahre „Deutscher Herbst“

Einführung zu den Hintergründen, die zum 18. Oktober 1977 führten:

Redaktion

Trotz diverser Hungerstreiks gegen die Vernichtungshaft war 1977 die geplante Zerstörung der Gefangenen durch Isolationshaft in den Hochsicherheitstrakten, die absehbaren Verurteilungen zu lebenslänglich bis mehrfach lebenslänglich und die Tatsache, dass vier Gefangene den Knast bis zu dieser Zeit nicht überlebt hatten, offensichtlich.

  • Holger Meins befand sich seit dem 19. September 1974 im Hungerstreik und starb am 9. November 1974 durch systematische Unterernährung und Zwangsernährungsfolter.
  • Siegfried Hausner nahm am 25. April 1975 als Mitglied des Kommandos Holger Meins am Versuch der RAF teil, über die Einnahme der deutschen Botschaft in Stockholm die Gefangenen aus der RAF zu befreien. Nach der Stürmung durch die Polizei wurde er schwerverletzt nach Stammheim gebracht, wo er auf Grund der fehlenden medizinischen Versorgung am 4. Mai 1975 starb.
  • Katharina Hammerschmidt starb draußen am 29. Juni 1975 an den Folgen eines kindskopfgroßen Brusttumors, der im Knast nicht behandelt wurde.
  • Ulrike Meinhof wurde am 9. Mai 1976 tot aufgefunden in ihrer Zelle in Stuttgart-Stammheim. Eine „Internationale Untersuchungskommission“ kam zu dem Schluss, „dass Ulrike (…) (schon) tot war, als man sie aufhängte“.

Das alles veranlasste die RAF, die Befreiung der Genoss*innen zum Ziel der Offensive 1977 zu machen.

Hungerstreik

Im März 1977, etwa einen Monat vor der Urteilsverkündung im Stammheim-Prozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, begannen die politischen Gefangenen den vierten Hungerstreik und forderten die Anwendung der Mindestgarantien der Genfer Konvention für Kriegsgefangene, die Abschaffung der Isolation und der entsprechenden Trakte und die Zusammenlegung zu Gruppen von mindestens jeweils 15 Genoss*innen. Dem Hungerstreik schlossen sich im Laufe der Zeit bis zu 100 Gefangene an.

Die Aktion gegen Buback

Am 07. April 1977 wird Generalbundesanwalt Buback von dem RAF-“Kommando Ulrike Meinhof“ erschossen. Die Aktion nahm Bezug auf die Tötungen von Holger, Siegfried und Ulrike, für die Buback damals als Generalbundesanwalt – zuständig für die Haftbedingungen der Gefangenen – verantwortlich war.
Dazu heißt es u.a. weiter in der Kommando-Erklärung: „Im Rahmen der Counterstrategie der imperialistischen BRD gegen die Guerilla ist die Justiz kriegführendes Instrument. (…) Buback – wie Schmidt sagt, ein tatkräftiger Kämpfer für diesen Staat – hat die Auseinandersetzung mit uns als Krieg begriffen und geführt. (…) Wir werden verhindern, dass die Bundesanwaltschaft den vierten kollektiven Hungerstreik der Gefangenen um minimale Menschenrechte benutzt, um Andreas, Gudrun und Jan zu ermorden, wie die psychologische Kriegsführung seit Ulrikes Tod offen propagiert.“[1]

Urteil in Stammheim

Am 28. April 1977 werden Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Zwei Tage später, am 30. April 1977, wird der Hungerstreik beendet, nachdem das baden-württembergische Justizministerium ein Einlenken signalisierte. Im Juli werden einige Kleingruppen mit maximal acht Gefangenen gebildet.

Aktion gegen Ponto

Am 30. Juli 1977 misslingt die Entführung des Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank, Jürgen Ponto und dem Berater von Kanzler Schmidt, der dabei erschossen wird. Die Gefangenen werden nach dieser Aktion der RAF wieder total isoliert und antworten mit einem weiteren Hungerstreik, den sie aber nach 26 Tagen mit folgender Begründung abbrechen: „Im Laufe der Woche haben wir von einem Mitglied von Amnesty International erfahren, dass der Vermittlungsversuch, den das Internationale Exekutivkomitee unternommen hat, um humane, d.h. Haftbedingungen, die den Forderungen der Ärzte entsprechen durchzusetzen, abgebrochen wurde, weil die Situation total verhärtet ist und in den Behörden von oben nach unten die Linie durchgesetzt wurde, nach den Anschlägen gegen den Bundesanwalt und Ponto an den Gefangenen ein Exempel zu statuieren. Das entspricht den Ankündigungen Rebmanns. Die Gefangenen haben daraufhin (…) am 26. Tag ihren Streik unterbrochen. Sie haben sich dazu entschlossen, nachdem sie damit offen zu Geiseln des Staatsschutzes erklärt worden sind (…).“ [2]

Entführung von Schleyer

Am 5. September 1977 entführt das „Kommando Siegfried Hausner“ den Kapitalistenfunktionär Hanns-Martin Schleyer. Das Kommando fordert die Freilassung von elf RAF-Gefangenen. Schleyer soll freigelassen werden, wenn die Gefangenen in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden.
Schleyer als Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI), des Bundesverbandes der Arbeitgeberverbände (BDA) und Vorstandsmitglied von Daimler-Benz, war eine der mächtigsten Persönlichkeiten der BRD („Boss der Bosse“), mit einer allerdings von der Presse immer verschwiegenen bzw. verharmlosten Nazikarriere. Er war bereits als 16-jähriger der faschistischen Bewegung beigetreten. Als Leiter des NS-Studentenwerks war er an der Gleichschaltung der Universitäten und der Entfernung der jüdischen und antifaschistischen Student*innen beteiligt. Später wurde er Leiter des Präsidialbüros im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren und war dort für die wirtschaftliche Eingliederung des tschechoslowakischen Industriepotentials in die deutsche Kriegswirtschaft zuständig.[3]
Trotz Schleyers Führungsposition ist die Bundesregierung zu keiner Zeit bereit gewesen, auf den vorgeschlagenen Austausch einzugehen. Schleyer soll gefunden und befreit werden. Es wird eine totale Nachrichtensperre verhängt. Außerdem wird die Kontaktsperre für die ca. 100 politischen Gefangenen eingeführt: jeglicher Kontakt, auch zu den Anwälten, wird untersagt, Radio und Zeitungen werden entzogen. Die Gefangenen sind damit gänzlich dem Staat ausgeliefert, der sogar in Erwägung zieht, Gefangene zu erschießen: jeweils einen für jeden Toten, den es draußen gibt. Diese Maßnahmen wurden nicht nur von Reaktionären, wie dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauss oder von Bubacks Nachfolger Rebmann gefordert, sondern auch von seinem sozialdemokratischen Kollegen Heinz Kühn.[4] Auch der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt forderte indirekt solche Maßnahmen:
„Der Staat muss daraufhin mit aller notwendigen Härte antworten“ und „Ich bitte die Herren, doch jetzt auch einmal exotische Gedanken auszusprechen, was wir machen sollen“.
Gleichzeitig wird eine totale Fahndung eingeleitet. So werden an wichtigen Verkehrsknotenpunkten Datenfunkstationen aufgestellt, über die alle vorbeifahrenden Kraftfahrer*innen im Alter zwischen 30 bis 35 Jahren über Interpol abgefragt werden. Das BKA verlangt Vertragsdurchschläge von allen in der BRD gekauften PKWs, in Köln werden alle Stromabnehmer auf ihre polizeiliche Meldung hin überprüft.

Entführung der Landshut

Am 13. Oktober 1977 wird die Lufthansa-Boeing 737 „Landshut“ mit 86 Passagieren während eines Fluges von Mallorca nach Frankfurt von einem palästinensischen Kommando entführt. Bereits in der Nacht zum 14. Oktober 1977 wird die Verbindung zur Schleyer-Entführung mit dem Eingang eines Ultimatums deutlich. Es wird die Freilassung derselben Gefangenen gefordert, zusätzlich noch die Freilassung von zwei Gefangenen aus der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ (PFLP) aus einem türkischen Gefängnis und ein Lösegeld von 15 Millionen US-Doller an die Freigelassenen. Die Regierung lehnt die Freilassung ab. In der Nacht zum 18. Oktober 1977 wird die Lufthansa-Maschine in Somalia auf dem Flughafen von Mogadischu durch ein Kommando der GSG 9, einer Bundesgrenzschutzeinheit, gestürmt. Die Mitglieder des Kommandos werden, bis auf eine Schwerverletzte, getötet.

Tote Gefangene

Am Morgen des 18. Oktober 1977 werden Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen aufgefunden. Jan stirbt wenige Stunden später. Sofort wird die offizielle Version des Selbstmordes verbreitet, obwohl erhebliche Unstimmigkeiten in den dann folgenden Untersuchungen aufgedeckt werden können. Andreas Baader soll die Pistole angeblich selbst festgehalten haben können, obwohl ein Gutachten aussagt, dass der Schuss aus einem Abstand von 30 bis 40 cm abgefeuert worden ist und die Pistole selbst immerhin 17 cm maß. Gudrun Ensslins Leichnam zeigte zahlreiche leichte Verletzungen und Blutergüsse. Ebenso wie bei Ulrike Meinhof wird auch hier ein Histamintest, der darüber Auskunft gibt, ob ein noch lebender oder bereits toter Mensch aufgehängt wurde, unterlassen. Irmgard Möller, die einzige Überlebende, sagte am 16. Januar 1978 vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages Baden-Württembergs aus:
„Für uns war klar, Selbstmord ist nicht Sache. Wir sind entschlossen zu kämpfen. (…) Ich habe mir die Verletzungen nicht selbst beigebracht.“[5]
Am 19. Oktober 1977 geht bei der Redaktion einer französischen Zeitung ein Schreiben der RAF ein, in dem mitgeteilt wird, wo sich der tote Hanns-Martin Schleyer befindet: „Für unseren Schmerz und unsere Wut über die Massaker von Mogadischu und Stammheim ist sein Tod bedeutungslos.“[6]
Vier von den elf Gefangenen, die befreit werden sollten, überlebten die Haft nicht. Am 12. November 1977 wurde Ingrid Schubert in München-Stadelheim erhängt aufgefunden. Obwohl sie in ihrer Isolationszelle in Minutenabständen observiert wurde, war es für den Staat natürlich auch „Selbstmord“.
Alle Menschen und Initiativen, die das öffentlich in Frage stellten, wurden kriminalisiert. So wurde die staatliche verordnete „Wahrheit“, die bis heute nie objektiv bewiesen werden konnte, zur herrschenden Wahrheit, die sich über die bürgerlichen Medien in die Köpfe der Menschen fraß.
Während die Linke in der BRD lange zu den Ereignissen um die toten Gefangenen schwieg, gab es in anderen Ländern massive Proteste, Demonstrationen und militante Aktionen gegen deutsche Einrichtungen und Firmen u.a. in Frankreich, Italien, Griechenland und den USA.

Nach 1977

Nach der Offensive der RAF 1977 werden im Rahmen der staatlichen Fahndung kaum noch mehr Gefangene gemacht. Bis Juni 1979 werden im Zuge der Fahndung drei Gesuchte erschossen: Willy Peter Stoll, Michael Knoll und Elisabeth van Dyck. Rolf Heißler überlebte schwer verletzt.
Die RAF führte trotzdem den Kampf für Befreiung politisch und bewaffnet weiter u.a. vor allem mit der Stadtguerillagruppe Action Directe aus Frankreich, aber auch mit Militanten aus der BRD im Rahmen des „Frontkonzepts“.[7] 1998 löste sich die RAF nach 28 Jahren auf.

Quelle: Überarbeitete Fassung aus „Eine kurze Einführung in die Geschichte der RAF“

  • [1]„Kommuniqué des RAF-Kommandos Ulrike Meinhof zur Hinrichtung Bubacks“; socialhistoryportal.org
  • [2]„Erklärung zum Ende des Hungerstreiks der Gefangenen aus der RAF in Stammheim vom 30. April 1977“; socialhistoryportal.org
  • [3]siehe auch ND vom 7. September 2017
  • [4]Welt 14.1977
  • [5]Pieter Bakker Schut u.a. (Hg.): Todesschüsse, Isolationshaft, Eingriffe ins Verteidigungsrecht, Seite 274
  • [6]Kommando Sigfried Hausner zum Tod Schleyers vom 19. Oktober 1977; socialhistoryportal.org
  • [7]RAF-Schrift „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front vom Mai 1982